Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Schlaglöcher und andere Stolperfallen rechtzeitig entdecken konnten.
»Du hast uns sehr geholfen«, sagte er. »Ich hatte den Eindruck, dass Moses zum ersten Mal zuversichtlich war. Vielen Dank für den Unterricht.«
»Das habe ich gerne getan«, erwiderte Igraine. »Hast du zurzeit eine Geliebte?«
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Der Abend war mit Knotenbinden, Segeltheorie und dem kleinen Regatta-Einmaleins sehr harmonisch verlaufen. Darüber hatte Otto ganz vergessen, dass Igraine immer sehr direkt gewesen war und selten ein Blatt vor den Mund genommen hatte. Jetzt erinnerte er sich auch, warum ihre Eltern so sehr darauf bestanden hatten, dass sie Konversations- und Benimmkurse für höhere Töchter belegen sollte. »Warum interessiert dich das?«
»Man beantwortet eine Frage nicht mit einer Gegenfrage.«
»Aha! Nein, ich habe keine Geliebte.«
»Was ist aus der Frau mit den langen blonden Haaren geworden?«
»Von wem sprichst du?«
»Vor sechs Jahren hast du anlässlich deines Geburtstages ein Gartenfest veranstaltet, zu dem auch meine Eltern eingeladen waren. Hinterher berichteten sie mir, dass eine schöne Frau zu Gast gewesen sei, mit der du lange getanzt hättest. Meine Mutter meinte, dass du einen sehr verliebten Eindruck gemacht hättest. In der Kolonie munkelte man später, dass sie eine Revueschauspielerin vom Belle-Alliance-Theater gewesen sei.«
»Das war Friederike Dürr.«
»Woher kanntest du sie?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich würde sie gerne hören«, sagte Igraine.
Während sie über die Friedrich-Wilhelm-Brücke gingen, erinnerte sich Otto an eine Zeit zurück, die sehr ereignisreich gewesen war. »Sie war eine Zeugin im Kreuzigungsfall, über den die Journalisten ausführlich geschrieben haben. Vielleicht erinnerst du dich noch an die Berichterstattung?«
»Siehst du sie noch? Was ist aus ihr geworden?«
»Wir hatten Schwierigkeiten, große Schwierigkeiten. Ein räumlicher und zeitlicher Abstand sollte mir Klarheit über meine Gefühle verschaffen. Deshalb reiste ich nach Amerika. Für ein Jahr war ich fort und bin gleich nach meiner Rückkehr in den Zug nach Leipzig gestiegen, um sie an ihrem neuen Wohnort aufzusuchen.«
»Wie war euer erstes Treffen?«
Mittlerweile hatten sie den Kaiserpavillon, ein exklusives Ausflugslokal, passiert, das auf einer Sanddüne mit Blick über dem Wannsee thronte. Sie gingen an dem Fähranleger vorüber, von dem regelmäßig Boote nach Kladow – zur anderen Havelseite – abgingen.
»Ernüchternd«, erwiderte Otto. »Rieke hatte zwar einem Treffen zugestimmt, aber nur um zu erklären, dass sie in der Zwischenzeit ein Verhältnis mit einem älteren Tuchhändler eingegangen sei, der sie nicht nur finanziell unterstützt, sondern ihr auch ein Engagement am Leipziger Theater beschafft habe. Sie sagte, dass es besser sei, wenn jeder sein eigenes Leben führe.«
»Warst du wütend auf sie?«
»Nein, wütend nicht. Einerseits war ich traurig, weil ich den Eindruck hatte, dass Rieke nichts gelernt hatte und wieder die gleichen Fehler beging wie zuvor. Andererseits war ich erleichtert, weil sie mir die Entscheidung abgenommen hatte. So musste ich mich nicht mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, ob ich überhaupt noch Gefühle für sie hegte. Danach habe ich nie mehr von ihr gehört, aber ich hoffe, dass es ihr gut geht. Sie hat etwas Glück verdient.«
Sie hatten den Bahnhof Wannsee erreicht und bogen in die Friedrich-Karl-Straße ab. Sie passierten die Villa des Bauunternehmers Robert Guthmann, dem das Gut Neukladow gehörte.
»Waren da noch andere Frauen, die dir wichtig waren und dir gefährlich werden könnten?«
»Das ist ja ein Verhör.«
»Ich muss das wissen.«
»Nein, keine anderen Frauen.«
»Gut.«
Sie hatten das gusseiserne Tor zur Raab’schen Villa erreicht und blieben davor stehen. Otto überkam das unangenehme Gefühl, zu viel von sich preisgegeben zu haben. Außerdem hatte ihr Gespräch ihn daran erinnert, dass er im Rahmen eines Kriminalfalls schon einmal einer Zeugin nähergekommen war. Damals war der Verbindung keine Zukunft beschieden gewesen. War es denkbar, dass ihm das Gleiche noch einmal passierte?
Igraine schien das Gehörte verarbeiten zu müssen, ehe sie wieder zu einem normalen Gespräch imstande sein würde. Deshalb standen sie einfach nur da, als plötzlich auf der anderen Straßenseite Schritte laut wurden.
»Igraine«, flüsterte eine Männerstimme. »Igraine, bist du
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