Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Gefälle zwischen der inneren Leere und dem Streben nach äußerem Glanz war so groß, dass enorme seelische Spannungen entstehen konnten, die sich nicht nur in antisemitischen Gedanken und Schriften, sondern auch in einem Mord entladen konnten. Hinzu kam, dass ihm seine Überzeugung ein klares Motiv in die Hand gab. Und selbst wenn er den armen Salomon Hirsch nicht selbst getötet hatte, so könnte er als spiritus rector , als lenkender Geist, in Erscheinung getreten sein.
Otto würde dem Commissarius empfehlen, Trittins Alibi zu überprüfen. Er hielt den Wissenschaftler für tatverdächtig.
»Klein-Sanssouci«
»Ist noch was?«, fragte Moses. Es war mittlerweile zehn Uhr abends. Der Junge war endlich heimgekehrt und hatte sich, ohne eine Erklärung abzugeben, sofort ins Musikzimmer begeben. Nun saß er auf einem Hocker vor dem Flügel und klappte den Deckel zurück.
Otto überlegte, ob er das unentschuldigte Verschwinden bei der Gewerbeausstellung ansprechen sollte, entschied sich aber wegen der besonderen Umstände dagegen. »Ich war noch in einer Buchhandlung«, sagte er, »und habe uns ›Seglers Taschenbuch‹ gekauft, das die ›Wassersport‹-Redaktion herausgegeben hat.«
»Du und deine Theorie«, sagte Moses.
»In dem Büchlein stehen viele praktische Tipps, die uns bei der Übungsregatta von Nutzen sein können. Ich habe es bereits überflogen, und dabei ist mir einiges klar geworden. Vielleicht schaust du mal rein.«
»Soll ich vielleicht noch deine Schuhe putzen, oder möchtest du eine Tasse Kakao?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil ich ansonsten Feierabend habe – verstehst du? Ich will meine Ruhe haben und Klavier spielen.«
»Bitte sehr«, sagte Otto, konnte sich aber nicht entschließen, das Musikzimmer zu verlassen. Vielleicht brauchte Moses nur etwas Zeit, um sich zu öffnen. Vielleicht würde er sein Herz noch ausschütten und hätte dann Beistand nötig. Er beobachtete, wie sein Leibdiener den Kopf senkte und mehrere weiße und schwarze Tasten anschlug, deren Töne sich langsam zu einer Melodie vereinten, in der Otto ein Auswandererlied erkannte. »Das Stück ist sehr schön«, sagte er. »Sehr schön und sehr sehnsuchtsvoll.«
Moses quittierte diese Bemerkung mit einem bitterbösen Blick und haute plötzlich kräftig in die Tasten. »Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet«, sang er die deutsche Arbeiter-Marseillaise , »zu unsrer Fahne steh allzuhauf! / Wenn auch die Lüg uns noch umnachtet, / bald steigt der Morgen hell herauf! / Ein schwerer Kampf ist’s, den wir wagen, / zahllos ist unsrer Feinde Schar …«
»Ist schon gut. Du weißt ja, wo du mich finden kannst«, sagte Otto und zog sich zurück. Er wusste zwar, dass Moses gerne die Schriften von Karl Marx las, aber er hatte keine Ahnung, wo er dieses Kampflied wieder aufgeschnappt hatte. Sein Leibdiener war manchmal so unberechenbar, so unvernünftig und auch so verschlossen. Selbst wenn er es gut mit ihm meinte, fand er keinen Zugang.
Otto trat in den Salon, der mit den barocken Stofftapeten, dem kunstvollen Kachelofen und den ziselierten Etageren der repräsentativste Raum von Klein-Sanssouci war. Er trat ans Fenster und griff nach dem Feldstecher, mit dem er über den Garten auf den Bootsanleger schauen konnte, wo sein jüngerer Bruder Ferdinand im Schein einer Petroleumlampe saß und vulkanisierten Kautschuk auf lange Holzlatten nagelte. Weder die kühlen Temperaturen noch die Stechmücken schienen ihm etwas auszumachen.
Ferdinand war auch so ein besonderer Mensch!
Nachdem Otto mehrere Wochen nichts von ihm gehört hatte, hatte der Erfinder am Abend plötzlich vor der Haustür gestanden. In einer Hand hatte er einen Werkzeugkoffer und in der anderen Hand den Handgriff eines Bollerwagens gehalten. Mit verklärtem Blick hatte er gesagt, dass er einen Traum gehabt hätte, in dem er so schnell und flink durchs Wasser geschwommen sei wie ein Fisch. Daraufhin habe er die Idee zu einem wundersamen Gerät gehabt, das man sich um die Füße schnallen könne und das er nun bauen und im Wannsee erproben wolle. »Nur zu«, hatte Otto gesagt und beobachtet, wie sein jüngerer Bruder mit seiner Ausrüstung um die Hausecke gebogen war.
Seufzend legte er den Feldstecher wieder auf die Fensterbank. Dann trank er einen Schluck Fencheltee und biss in ein rohes Stück Kohlrabi, das recht langweilig schmeckte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich in der Küche einen Käse-Wurst-Salat zu bestellen, der zu den Spezialitäten
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