Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Mundhöhle entfernt war.
Da durchzuckte ihn ein Gedanke: War das Wasser nur schal gewesen, oder war es vergiftet worden? Hatte er seine Trinkflasche irgendwo unbeaufsichtigt stehen lassen? Oder hatten sie etwas in die Brunnen geschüttet? Das war nichts Neues, das hatten sie schon im Mittelalter getan. Trotzdem: Dass sie zu einem so drastischen Mittel greifen würden, hätte er nicht für möglich gehalten. Eine solche Maßnahme würde auch den Tod von Kindern und Frauen nach sich ziehen. Was waren sie nur für abscheuliche Kreaturen!
Während er die Trinkflasche auf das Trottoir leerte, öffnete sich die Tür des jüdischen Altersheimes, und ein älterer Mann in Frack und Zylinder trat nach draußen.
Das war Frankfurter!
Endlich war es so weit!
Der Bankier schaute die Straße hinunter und begab sich in Richtung Puhlmanns Vaudeville, eines Theaters. Vermutlich war die Restauration bereits geschlossen, sodass er sich auf direktem Weg zum Droschkenplatz begeben würde. Glücklicherweise lagen beide Ziele auf derselben Strecke, sodass er vorgesorgt hatte.
Während er die Verfolgung aufnahm, holte er eine kleine braune Flasche aus seiner Jackentasche und entkorkte sie. Aus der anderen Tasche zog er einen Schwamm, auf den er das süßlich riechende Betäubungsmittel schüttete, das auch bei chirurgischen Eingriffen in Krankenhäusern verwendet wurde. Er wusste, dass die Zahl der Patienten, die durch eine zu hohe Dosis gestorben waren, beträchtlich war. Deshalb musste er vorsichtig sein. Nachdem er mit den Vorbereitungen fertig war, verstaute er die Utensilien wieder.
Während er den Abstand zu dem Bankier verringerte, machte er sich auf die Hinterlist, Verschlagenheit und Tücken gefasst, die charakteristisch für das jüdische Volk waren. Nur wenn er sie mit ihren eigenen Waffen bekämpfte, würde er als Sieger hervorgehen.
Der Bankier hatte seine Fußtritte auf dem Pflaster vernommen und schaute sich um. Ein Überraschungsangriff war jetzt nicht mehr möglich, aber er hatte sich auf alle Eventualitäten vorbereitet und wusste, wie er vorgehen musste. Deshalb rief er auf Höhe der Baulücke:
»Herr Frankfurter, warten Sie einen Moment.«
Tatsächlich blieb der Bankier stehen und drehte sich um. »Sie kennen meinen Namen? Was wünschen Sie?«
»Ihre Mutter ist erwacht und hat nach Ihnen gerufen. Ihr Puls ist kaum noch fühlbar, und sie glaubt, dass es zu Ende geht. Wir befürchten das Schlimmste.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte der Bankier. »Ich hab Sie noch nie gesehen. Weder in der Synagoge noch im Altersheim.«
»Wenn Sie mit Ihrer Mutter noch einmal sprechen wollen, sollten Sie keine Zeit verlieren«, sagte er und wies Frankfurter den Weg zum Altersheim.
Der Bankier sah ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Sorge an, begab sich aber auf den Rückweg. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Er zog den Schwamm aus der Tasche, sprang den alten Mann von hinten an und drückte ihm das Betäubungsmittel auf Mund und Nase. Anfänglich leistete der Bankier noch Widerstand, aber nur wenige Atemzüge später sackte er in sich zusammen. Er griff ihm schnell unter die Achseln und zog den leblosen Leib in die Dunkelheit der Baulücke. Ringsherum wucherten Büsche und türmten sich Müllberge auf. Pfützen hatten sich gesammelt. Ein streunender Hund rannte durch das Gestrüpp davon. Er legte Frankfurter hinter einen Stapel aus morschen Brettern. Hier würde er ihn unbemerkt aufladen können. Dann würde er in den heiligen Hain fahren, um das Ritual zu vollziehen.
Ihm graute davor, was er tun musste. Allein der Gedanke daran bereitete ihm Übelkeit: all das Blut, all die schmierigen Organe, all der Körperschleim. Es war einfach widerlich, aber es musste getan werden. Für sein Volk, für Germanien und für ihn selbst. Denn eines war klar: Wenn er die Belohnung wollte, musste er sie sich verdienen.
Colonie Alsen am Wannsee
Otto hatte darauf bestanden, Igraine auf dem Heimweg zu begleiten. Es war schon nach Mitternacht, und in den vergangenen Stunden war starker Westwind aufgekommen, der eine dichte Wolkendecke über die Fluss- und Seenlandschaft geschoben hatte. Weder der Schein des Mondes noch das Strahlen der Sterne drang zu ihnen durch. Sie gingen auf der Chaussee von Potsdam, ungefähr auf Höhe der Siemens-Villa, und bewegten sich weiter Richtung Friedrich-Wilhelm-Brücke. Es war so dunkel, dass sich die Bäume am Straßenrand kaum abzeichneten. Deshalb trug Otto eine Laterne vor ihnen her, damit sie
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