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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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hatten.«
    Der Commissarius schloss das Fenster und begab sich auf dem kürzesten Weg in den salle de bains , ins Badezimmer, wo er sich die Nachtmütze absetzte und neben dem Töpfchen mit der Tagescreme den Erpresserbrief entdeckte, den er vor dem Zubettgehen dort abgelegt hatte.
    Funke gab einen Stoßseufzer von sich. Wie schön wäre es gewesen, einmal den Kopf freizuhaben, um sich ganz auf die Ermittlungen zu konzentrieren. Andererseits musste er endlich entscheiden, wie er reagieren sollte. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, und der Leichnam im Tiergarten konnte auch noch zehn Minuten warten. Also griff er nach dem Zettel, faltete ihn auseinander und las den Text auf der Suche nach Hinweisen auf die Identität des Erpressers:
    »Als Polizist hätten Sie wissen müssen, dass die widernatürliche Unzucht zwischen Männern nach Paragraf  175 RS t GB mit Gefängnis bestraft wird. Ich kenne Ihr Geheimnis. Packen Sie zweitausend Mark in Reichsbanknoten in eine braune Brottüte und legen Sie sie am Montag, den fünfzehnten Juni, um drei Uhr nachmittags am Königsplatz hinter einen Feldstein, der durch ein weißes Kreidekreuz gekennzeichnet ist. Danach entfernen Sie sich Richtung Brandenburger Tor. Schauen Sie nicht zurück! Sollten Sie meiner Forderung nicht nachkommen oder sollten Sie versuchen, mir eine Falle zu stellen, wird der Polizeipräsident alles erfahren. Es gibt Beweise und Zeugen.«
    Was sagte der Brief über den Erpresser aus? Um seine Handschrift nicht zu verraten, hatte er Druckbuchstaben verwendet. Trotzdem war die Linienführung leicht zittrig. Möglicherweise war er schon älter oder litt an einem Gebrechen. Die Orthografie, die Zeichensetzung und die Grammatik waren fehlerfrei. Deshalb war davon auszugehen, dass er eine höhere Bildungsstätte besucht hatte.
    Funke konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann wirklich etwas gegen ihn in der Hand hatte. Täuschte der Erpresser nur ein Wissen vor, das er nicht hatte? Seine extravertierte Art, sein auffälliger Kleidungsstil und seine Liebhaberei für die Zeichenkunst hatten schon häufig zu Gerede geführt. Zwar tauchte er auf keiner der Listen auf, die im Polizeipräsidium zur Strafverfolgung kursierten, aber er hatte gehört, dass einige Kollegen seinen Namen am liebsten hinzugefügt hätten. Letztendlich konnte er sich nicht sicher sein, ob der Erpresser Gerichtskräftiges in der Hand hatte oder einfach einen Schuss ins Blaue gewagt hatte. Der Commissarius legte den Zettel wieder beiseite. Jetzt musste er erst einmal in den Tiergarten.
    Mit einem feuchten Tuch wischte er sich die Nachtcreme aus dem Gesicht. Er wählte einen Anzug in einem sehr dezenten Grau aus und kleidete sich an. In seiner momentanen Situation hielt er es für besser, auf schrille Farben zu verzichten, um dem Erpresser keine zusätzliche Munition zu liefern. Er achtete darauf, dass er die geruchsneutrale Tagescreme auftrug, und stäubte danach seine Echthaarperücke mit Puder ein, bis sie farblich auf seinen Anzug abgestimmt war. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, zwei oder drei Tropfen von dem Eau Royal aufzutragen, aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückhalten. Mit etwas natürlichem Körpergeruch würde er sich kaum noch von den anderen Kriminalbeamten unterscheiden. Ach, er sehnte schon den Tag herbei, an dem er sich wieder so benehmen, schminken und kleiden konnte, wie er sich fühlte.
    Bevor er seine Wohnung verließ, begab er sich noch ins Esszimmer und trat ans Büfett, wo seine beste Zeichnung, die seiner verstorbenen Großmutter, in einem Rahmen stand. Bis zu ihrem Tod hatten sie hier zusammengewohnt, und auch jetzt war sie noch seine wichtigste Bezugsperson. »Leider muss ich schon los«, sagte er und rückte die schwarze Samtschleife zurecht, die er um die Ecke des Rahmens drapiert hatte. »Aus unserem gemeinsamen Frühstück wird nichts. Ich befürchte, dass wieder ein Serienmörder umgeht.«
    »Was hatten Sie zu so früher Stunde im Tiergarten zu suchen?«, fragte der Commissarius wenig später.
    »Wenn ich nicht schlafen kann«, erwiderte Holle, »laufe ich in den Nächten durch die Stadt. Manchmal auch durch den Tiergarten. Dabei bin auf den Toten gestoßen.«
    Natürlich war Berlin groß, aber die Erklärung klang für Funke plausibel. Er hatte in seiner Laufbahn viele Mörder kennengelernt und einiges über ihre Vorgehensweise erfahren. Ausnahmslos hatten sie Spuren verwischt, falsche Fährten gelegt und das Weite gesucht, damit keine

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