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Mord und Mandelbaiser

Mord und Mandelbaiser

Titel: Mord und Mandelbaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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längst zu spät. Als ich auf der Anhöhe ankam, war alles schon vorbei. Das verbeulte Rad klebte am Christophorus, und Lore lag im Bach.«
    »Aber wie kommen Sie dann –«, setzte der Beamte erneut an.
    Hilde schnitt ihm das Wort ab. »Weil Lore sozusagen ein Radprofi ist. Das Gefälle von der Anhöhe zur Brücke ist viel zu gering, als dass es sie aus der Bahn hätte werfen können. Selbst mit den Füßen auf dem Lenker hätte sie die Spur gehalten.«
    Der Polizeibeamte fuhr im Schritttempo weiter. Erst als die letzten Häuser von Scheuerbach in Sicht kamen, schaltete er hoch und gab Gas.
    »Haben Sie sich schon mal ein Radrennen angesehen? Sogar echten Profis stoßen erstaunliche Unfälle zu. Zudem besteht die Möglichkeit«, fuhr er fort, während er nun recht flott die Kurve hinter dem Ortsschild nahm, »dass Frau Westhöll von irgendetwas behindert oder erschreckt worden ist. Womöglich sind Rehe auf die Fahrbahn gesprungen. Wir haben doch so viel Wildwechsel hier. Erst gestern …« Er stockte, schien nachzudenken, was er eigentlich hatte sagen wollen, und fuhr nach einem Moment fort: »Meine Kollegen und ich haben uns das Rad ganz genau angesehen. Glauben Sie mir, Frau Westhöll, da war kein anderes Fahrzeug beteiligt. Es gibt nicht das kleinste Anzeichen von fremden Lackspuren; ebenso wenig von Beschädigungen, die von etwas anderem als dem Zusammenstoß mit dem Betonsockel herrühren. Außerdem beweist die gesamte Auffindesituation, dass die Radfahrerin von der Anhöhe herunterkommend gegen den Sockel geprallt ist. Gegen den Sockel, Frau Westhöll, nicht gegen ein anderes Fahrzeug. Denn in so einem Fall hätte das Rad nicht so daliegen dürfen, wie es dalag.« Energisch fügte er hinzu: »Gemäß der Spurenlage ist ein Unfallhergang mit Beteiligung eines zweiten Fahrzeugs einfach nicht denkbar.«
    »Nicht denkbar«, wiederholte Hilde sarkastisch. Liebend gern hätte sie ergänzt: nicht denkbar für einen beschränkten Dorfbullen mit einem Horizont, der kaum über die Nasenspitze hinausreicht.
    Aber es sich derartig mit der Polizei zu verderben, wagte sie dann doch nicht. Deshalb zog sie es vor, ihre Überlegungen für sich zu behalten. Ist Lore von einem Reh erschreckt oder von jemandem bedrängt worden?, sinnierte sie. Ist es nicht merkwürdig, dass sie ausgerechnet nach jenen Tagen verunglückt, in denen sie unruhig wirkte, sorgenvoll, umtriebig, so als schlage sie sich mit irgendetwas herum? Grübelnd fing Hilde an, verschiedene Szenarien zu entwerfen, die Lores katastrophalen Sturz hätten herbeiführen können.
    Mal angenommen, sagte sie sich, von Scheuerbach her wäre ein Auto auf sie zukommen, das an der Engstelle viel zu weit auf der Gegenfahrbahn fuhr. Es gab einen Zusammenstoß. Das Rad schleuderte gegen den Sockel, und Lore flog in den Bach. So könnte man sich das doch vorstellen. Aber, musste sie einräumen, dann wäre das ramponierte Rad nicht vorne an den Sockel gepresst gewesen, sondern seitlich. Und ja, es müssten tatsächlich Lackspuren von dem beteiligten Wagen am Rad zu finden sein und ganz typische Verformungen vermutlich. Andererseits …
    Sie fröstelte wieder, weil die Klimaanlage inzwischen ihr Werk getan hatte, und zog die Decke über der Brust zusammen.
    »Wir sind gleich da«, sagte der Beamte. »Dann können Sie trockene Sachen anziehen und sich erholen.«
    »Erholen.« Das Wort ließ Lores leblosen Körper vor Hildes Augen erscheinen. Würde Lore sich von diesem Unfall erholen? Hatte sie ihn überhaupt überlebt? Wo befand sie sich im Augenblick? War jemand bei ihr?
    »Ist mein Neffe schon benachrichtigt worden?«, fragte sie misstrauisch.
    Der Beamte nickte, während er den Wagen vor dem Bestattungsinstitut parkte. Offenbar wusste er, dass Hilde gleich nebenan wohnte. »Herr Westhöll müsste schon auf dem Weg zu seiner Frau ins Krankenhaus sein.«
    Gut, dachte Hilde. Rudolf kümmert sich um Lore. Aber wer zum Teufel …
    Noch bevor der Beamte seinen Sicherheitsgurt geöffnet hatte, sprang sie aus dem Wagen. Auf dem Bürgersteig stehend, wartete sie ungeduldig, bis er ebenfalls ausgestiegen war, die Fahrertür geschlossen und die Verriegelung betätigt hatte. Während all dieser Verrichtungen hielt sie bereits die Hand ausgestreckt, um den Autoschlüssel entgegenzunehmen. Als er ihr endlich gereicht wurde, gab sie dem Polizisten hastig die Decke zurück, murmelte ein knappes »Danke« und marschierte davon.
    Hilde hatte es plötzlich eilig, enorm eilig

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