Mord und Mandelbaiser
Regel nach eine Verwünschung zur Folge gehabt haben würde, hörte sie das Martinshorn.
»Gut«, brummte sie, statt zu fluchen. »Sehr gut. Die waren ja ausnahmsweise mal flott, die Sanitätsheinis.« Sie erreichte das Ufer und lehnte sich erschöpft an den Stamm einer Trauerweide.
Kurz darauf herrschte hektisches Treiben am Moosbachufer.
Lore wurde auf eine Trage gebettet und zur Brücke hinauftransportiert. Neben der Trage lief eine junge Sanitäterin her, die einen durchsichtigen Behälter am ausgestreckten Arm hochhielt, von dem aus ein Schlauch zu Lores linkem Arm führte. Zwischen kurzen Kommandorufen, zwischen Rascheln, Schlurfen und Scharren war gleichförmig Wallys Stimme zu vernehmen: »Du bist gebenedeit …«
Hilde winkte ab, als einer der Sanitäter auf sie zukam. »Mit mir ist alles in Ordnung, kümmern Sie sich um Lore.« Die Decke, die er ihr reichte, nahm sie mit einem »Passt schon« entgegen, biss sich jedoch, kaum war es heraus, wie ertappt auf die Lippen. Gut, dass Thekla nicht in der Nähe war. Sie hasste diesen Ausdruck, der hier in der Region das höfliche »Danke ja« oder »Danke nein« zu ersetzen drohte, und in diesem Fall musste Hilde ihr recht geben. Schleunigst wickelte sie sich in die Wolldecke und hoffte, so das Zittern eindämmen zu können, das sie urplötzlich angefallen hatte.
»Frau Westhöll, wenn ich nicht irre!« Ein langer Kerl in grüner Uniform legte ihr die Hand auf die Schulter.
Hilde nickte. Sie war keineswegs überrascht, dass er ihren Namen wusste. Schließlich war sie keine ganz Unbekannte im Landkreis.
Die Polizei war also inzwischen auch eingetroffen.
Wurde aber auch höchste Zeit, dachte Hilde.
»Was ist denn hier passiert, Frau Westhöll? Fühlen Sie sich gut genug, mit mir darüber zu reden?«
Schockschwerenot, was passiert ist, sehen Sie doch selbst, wollte Hilde antworten. Und sie wollte den Polizisten mit harschen Worten anweisen, die Spuren auf der Brücke zu sichern, anstatt ihr mit Geplauder zu kommen.
Aber als sie den Mund aufmachte, kam nichts heraus. Stattdessen begannen ihre Zähne zu klappern. Da sah sie ein, dass sie sich auf ein paar Silben beschränken musste.
»Lores verbeultes Rad entdeckt«, stieß sie heraus. Dann presste sie die Kiefer zusammen, bis das Zähneklappern etwas nachließ. Nach einigen Augenblicken konnte sie hinzufügen: »Nach Lore gesucht … sie im Wasser gefunden.«
Der Polizeibeamte – seinen Namen wusste Hilde nicht (sie kannte ihn allerdings vom Sehen, wie das auf dem Land halt so ist) – nickte ihr verständnisvoll zu. »Wir nehmen Ihre vollständige Aussage später auf. Jetzt bringen wir Sie erst mal nach Hause.«
Hilde deutete mit einem zitternden Finger zur Brücke. »Mein Wagen … Wally.«
Der Polizist überlegte einen kurzen Moment, bevor er entschied: »Ich fahre Sie in Ihrem Auto nach Hause, mein Kollege wird Frau Maibier im Streifenwagen heimbringen.« Er fasste Hilde unter und half ihr die Böschung hinauf.
Als Hilde in ihrem Wagen saß, legten sich ihr Zittern und Zähneklappern, denn die Sonne hatte den Innenraum auf gut dreißig Grad aufgeheizt.
Kaum war der Polizeibeamte auf der Fahrerseite eingestiegen, fragte sie ihn angriffslustig: »Wo bleibt die Spurensicherung?«
Er sah sie an, als würde sie halluzinieren.
Hilde fixierte ihn unbeeindruckt.
Der Beamte drehte den Zündschlüssel so langsam, dass die Bewegung wie eine Zeitlupenaufnahme wirkte, dann sagte er mit betonter Nachsicht: »Die Spurenlage ist eindeutig, Frau Westhöll. Da muss nichts gesichert werden.«
Als von Hilde ein scharfes Zischen kam, beeilte er sich fortzufahren: »Ihre Nichte ist die Anhöhe zu schnell heruntergesaust, hat die Kontrolle verloren und ist gegen den Sockel der Christophorus-Statue geprallt. Dabei ist sie vom Rad geschleudert worden und im Bach gelandet.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Die Spurensicherung würden wir nur dann rufen, wenn wir einen Hinweis auf Fremdverschulden gefunden hätten.«
»Aha«, sagte Hilde darauf. »Fahrerflucht fällt wohl nicht in diese Kategorie?«
Der Beamte hielt am Zebrastreifen in der Ortsmitte von Scheuerbach an, weil ein Trupp Jugendlicher die Straße überqueren wollte, und warf Hilde einen forschenden Blick zu. »Wie kommen Sie darauf, dass an dem Unfall ein anderes Fahrzeug beteiligt gewesen sein könn–?« Er unterbrach sich und fragte: »Sie haben doch nicht etwa eine entsprechende Beobachtung gemacht, oder?«
Hilde verneinte. »Dazu war es
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