Mord und Mandelbaiser
Fahrzeug beteiligt war, weil jeder Hinweis darauf fehlte? Aber was, schoss es Wally in den Sinn, wenn derjenige, der mit Lore zusammengestoßen war, sämtliche Spuren beseitigt hatte? Sie spitzte die Ohren, um noch mehr zu erfahren. Leider zu spät. Sepp Maibier eilte soeben davon, um seine private Bestellliste und die seiner Söhne zu holen, während der Getränkeausfahrer die Persenning des Lasters öffnete.
Maibier & Söhne bezog jede Woche eine umfangreiche Lieferung Sprudel und Limonade für die Tischlerei, denn man legte Wert darauf, dass sich die Angestellten direkt am Arbeitsplatz mit Getränken versorgen konnten. Der Lieferant hatte den Auftrag, im Kühlraum zu überprüfen, was zur Neige gegangen war, und die Stellagen entsprechend aufzufüllen. Nachdem er volle Flaschenträger zur Werkstatt geschleppt und leere auf der Ladefläche seines Lasters verstaut hatte, bekam er gewöhnlich einen Zettel ausgehändigt, auf dem Maibier und seine Söhne ihre persönlichen Wünsche aufgelistet hatten. Dabei handelte es sich allerdings nicht um Saft oder Limonade, sondern um allerlei Biersorten, denn die Herren Maibier waren mit Haut und Haaren dem bayerischen Nationalgetränk verschrieben. Um ihre Biere machten sie ein Aufhebens wie ein Winzer um seine Spätlese. Die beiden ältesten Söhne, die mit ihren Familien in eigenen Häusern lebten, hatten sich sogar spezielle Kellerräume eingerichtet, in denen das Weißbier, das Pils, der Doppelbock sachgerecht gelagert werden konnten – nicht zu lange, versteht sich. Aber bei den Maibiers wurde das Bier ohnehin nicht alt.
Wally hatte sich noch immer nicht von der Stelle bewegt. Geistesabwesend sah sie dem Getränkelieferanten zu, wie er auf die Ladefläche stieg und sich an den Flaschenträgern, die dort aufgestapelt waren, zu schaffen machte. Ihr Blick fiel auf die roten Kästen, in denen sich die Literflaschen mit Apfelsaftschorle befanden. Apfelschorle musste jede Woche nachgeliefert werden, weil sie bei der Belegschaft am beliebtesten war. Zwei landeten mit einem Rums auf dem Asphalt des Hofes. Die Flaschen darin ließen nur ein dumpfes Rumpeln hören, denn sie waren aus Plastik, wie das gesamte Geschirr – Teller, Schale oder Trinkbecher –, das in der Werkstatt benutzt wurde, aus Plastik sein musste. Maibier duldete weder Glas noch Porzellan in der Nähe seiner teuren Maschinen, denn Scherben und Splitter konnten an fein gezackten Sägen und erstklassig geschärften Hobelmessern immensen Schaden anrichten.
Der Getränkelieferant baute auf der Ladefläche soeben einen Kastenturm ab und schichtete ihn an einer anderen Stelle wieder auf. Offenbar musste er Platz schaffen, um an Ware zu gelangen, die sich weiter hinten befand. In den grünen Flaschenträgern, die er da aufeinanderstapelte, klirrte es heftig.
Wally starrte die Fläschchen an, die sich darin befanden, und hatte plötzlich das Gefühl, ein bestimmter Gedanke versuche sich in ihrem Kopf Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dieser Gedanke schien dafür zu sorgen, dass sich ihr Blick unausweichlich an jenen Fläschchen in den grünen Kästen festsaugte. Sie waren aus durchsichtigem, dickwandigem Glas, und sie waren mit einer fast honiggelben Flüssigkeit gefüllt.
Wally überfiel die Erkenntnis mit einem scharfen Stich. Honiggelber Saft in kleinen Flaschen, die wie Sinalcoflaschen ausschauen. So eine muss Hilde bei Frau Kaltenbach gesehen haben. So eine hat Sepp in Mamas Zimmer gebracht. Deswegen hatte Hilde vor, den Sepp auszuhorchen. Weil sie nämlich unbedingt erfahren wollte, wo er sie herhatte.
Ohne ihr Zutun streckte sich Wallys Arm aus, ihr Zeigefinger deutete anklagend auf eines der Fläschchen.
»Was ist denn da drin?«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wo kommt denn das her?«
Der Getränkelieferant schaute auf. Sein Blick fand Wally, ruhte einen Moment lang auf ihrem Gesicht, wanderte dann ihren Arm und ihre Hand entlang bis zu dem Punkt, auf den ihr Finger zeigte, kehrte wieder um – und wirkte ausgesprochen ratlos.
So standen sie sich gegenüber, als Sepp Maibier zurückkehrte: Wally stocksteif, nach wie vor anklagend auf einen grünen Flaschenträger deutend; der Getränkelieferant leicht nach vorn gebeugt, die Hände zum Zupacken bereit, jedoch sichtlich verdattert auf Wally starrend.
Bevor ihr Mann ein Wort sagen konnte, begann Wally, mit dem Finger zu fuchteln, und wiederholte ihre Frage. Das erweckte auch den Getränkeausfahrer wieder zum Leben. Scheppernd schwang er den nächsten
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