Mord und Mandelbaiser
sogar.
»Himmelherrgottnochmal«, rief sie. »Einer muss sich doch ums Geschäft kümmern.«
Lore lag im Krankenhaus, Rudolf war auf dem Weg zu ihr, und Egon Pfeffer hatte freigenommen, weil er sich einen Hörapparat anpassen lassen musste. Wer blieb also übrig, um im Bestattungsinstitut die Stellung zu halten? Wer war hier unentbehrlich, unersetzlich – nicht mit Gold aufzuwiegen?
Derselbe Tag
Am Abend im Hof der Tischlerei Maibier
Wally konnte sich auf Jahre zurück nicht entsinnen, dass jemand so fürsorglich zu ihr gewesen wäre wie der Polizist, der sie nach Hause brachte.
Obwohl es im Polizeiwagen nach kaltem Rauch stank, nach ranzigem Fett und alten Socken, hätte sie Stunden, Tage, ach Monate darin sitzen bleiben mögen.
Himmelmutter, verteidigte sich Wally einer sanften Mahnung ihres Gewissens gegenüber, ich will nicht ungerecht sein. Hilde und Thekla sind wirklich gute Freundinnen. Ja, auch Thekla, obwohl ich sie nicht recht durchschaue. Sie hält gern auf Abstand, was sie manchmal fast schon beängstigend unergründlich macht. Aber ganz besonders Hilde, trotz ihrer barschen Art. Was macht es, dass sie oft wettert und vom Leder zieht. Es ist halt ihre Art. Und Hilde holt mich jeden Mittwoch von zu Hause ab, sodass ich dem Sepp zum Trotz mit den beiden ins Café Krönner gehen kann, und sie bringt mich anschließend auch wieder heim. Aber hat sie jemals »liebe Frau Maibier« beziehungsweise, weil wir ja per du sind, »liebe Wally« zu mir gesagt? Hat sie mir schon mal den Gurt angelegt, mir den Arm getätschelt und mir ein Bonbon angeboten? Hat sie im Autoradio »Bayern 1 – Wir lieben Oldies« für mich eingestellt und mich dann gefragt, ob ich es auch wirklich bequem habe?
Bevor Wally der Himmelmutter versichern konnte, dass all diese Fragen ehrlichen Herzens mit einem klaren »Nein« beantwortet werden durften, bog der Polizeiwagen zur Tischlerei Maibier ein, die nur fünf Minuten von der Unfallstelle entfernt lag.
Wie immer, wenn Wally die Zufahrt heraufkam, freute sie sich über die Rabatten zu beiden Seiten des Wegs, auf deren Dekoration sie stets viel Mühe verwandte. Zwischen Inseln blühender Pflanzen schillerten Glaskugeln, die an verschieden hohen Stäben befestigt waren. Tierfiguren aus Keramik bildeten Grüppchen auf Kiesoasen, Vogeltränken aller Variationen boten sich gefiederten Gästen dar.
Erst vergangene Woche hatte sie im Gartencenter nebenan eine Sonne aus emailliertem Metall samt spiralförmiger Halterung erworben, die seither auf eine bunt gekleidete – schon seit Längerem hier heimische – Hasenfamilie herunterschien.
Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, als das Arrangement in Sicht kam, doch schon im nächsten Moment senkten sie sich kummervoll, als ihr einfiel, was ihre Familie von ihrer Gartengestaltung hielt.
Der Beamte bremste. Doch bevor sie ganz zum Stehen kamen, nahm er den Fuß vom Pedal und ließ den Wagen langsam weiterrollen, als wäre er unschlüssig, an welcher Stelle er anhalten und Wally absetzen sollte.
Links befand sich das Wohnhaus der Maibiers, das irgendwie zugeknöpft wirkte; die drei Garagen auf der rechten Seite dagegen zeigten weit geöffnete Mäuler. Geradeaus lagen die Werkstätten mit ebenfalls offenen Toren, aus denen das Kreischen der Sägen drang und das Sirren der Schleifmaschinen.
Schräg vor einem der Tore arbeitete jemand an einer mindestens zehn Meter langen Stange, die horizontal auf Böcken ruhte.
»Ist das da vorn Ihr Mann?«, fragte der Polizist.
Sie nickte, ohne irgendeine Bewegung zu machen, die darauf hätte schließen lassen, sie sei zu Hause angekommen und wolle aussteigen.
»Er hat schon mit der Arbeit am Maibaum angefangen«, sagte sie, um sich nicht von der Stelle rühren zu müssen. Da der Polizeibeamte eine Entgegnung schuldig blieb, fügte sie hinzu: »Der Sepp hat am Himmelfahrtstag ausgelobt, dafür zu sorgen, dass die Scheuerbacher nächstes Jahr den längsten und schönsten Maibaum zwischen Regensburg und Passau haben werden. Und der Sepp hält seine Versprechen. Letzte Woche hat er schon eine Blaupause für das Trachtenpaar gemacht, das ganz oben an der Spitze den Reigen tanzt.« Sie schluckte hart, als ihr Hildes Kommentar zu Sepp Maibiers Projekt einfiel: »Keine Sau braucht einen Maibaum.«
»Dann begleite ich Sie jetzt zu Ihrem Mann«, sagte der Beamte.
Wally rührte sich nicht. »Der Sepp will die Arbeit ganz allein mit seinen eigenen zwei Händen verrichten. Das Hobeln, das Schleifen, das
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