Mord und Mandelbaiser
mit einem Strahlen im Gesicht davongebraust.«
Die Schaulustigen, die sich im Kielwasser des Rettungsteams beim See eingefunden hatten, begannen sich allmählich zu zerstreuen. Die Bergwachtmänner hatten ihre Seile längst zusammengerollt, ihre Gurte und Karabiner eingepackt und waren verschwunden. Inzwischen schienen auch die Polizeibeamten zum Aufbruch bereit zu sein. Kameras wurden verstaut, Absperrbänder aufgewickelt.
Ein Polizist in Uniform stieg in Oskar Pfeffers neuen Transporter, startete ihn und holperte auf die Straße zu.
Hilde sah ihm eine Weile versonnen nach, dann wandte sie sich an Wally. »Erzähl mir doch mal ganz genau, was du erlebt hast, während ich in dem Laderaum gefangen war.«
»Ihr seid so schnell gelaufen, du und Thekla«, begann Wally, »dass ich euch einfach nicht einholen konnte. Als ich endlich bei der Lagerhalle ankam, stand zwar die Tür offen, aber niemand war zu sehen.« Sie machte ein betretenes Gesicht. »Und allein habe ich mich nicht hineingetraut, weil da lauter Särge waren. Aber auf einmal habe ich Stimmen gehört, die aus dem rückwärtigen Teil der Halle zu kommen schienen. Weil ich euch natürlich da vermutete, wo die Stimmen herkamen, wollte ich auch dorthin, und deshalb bin ich draußen an der Wand entlanggegangen.«
Auf Wallys Stirn erschienen zwei senkrechte Falten, die von großer Konzentration zeugten und davon, dass sie sich alle Mühe gab, einen verständlichen, detailgenauen Bericht zu liefern. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis er beendet war.
Hilde hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihr Mund war ein Strich. Die Sätze, die sie hervorstieß, muteten wie Sturmangriffe an. »Du hast also ewig lang gelauscht. Du hast mitbekommen, dass der Mörder Thekla in seiner Gewalt hatte. Du hast gewusst, dass ich im Transporter eingeschlossen war.« Ihre Stimme klang drohender als das Knurren eines tollwütigen Hundes. »Du hättest mich befreien können, du hättest die Tür der Halle abschließen können, sodass er Thekla nicht fortbringen konnte. Du hättest …« Sie gab auf. Ließ die Arme sinken, mit denen sie vor Wallys Gesicht herumgefuchtelt hatte, schloss die Augen und bemühte sich, gleichmäßig zu atmen.
Was hatte es für einen Sinn, Wally Vorhaltungen zu machen? Was hatte es für einen Sinn, ihr Unvermögen und Begriffsstutzigkeit vorzuwerfen? Zumal doch alles gut gegangen war. Vielleicht wäre es ja auch gar keine gute Idee gewesen, Thekla und den Mörder in der Halle einzuschließen.
Hilde beruhigte sich und nahm sich vor, Wally nicht zu traktieren. Das besorgte Sepp Maibier ohnehin zur Genüge.
Sepp Maibier.
»Hatte dein Mann tatsächlich ein Verhältnis mit dieser Lanz?«
»Ich fürchte schon«, erwiderte Wally kleinlaut.
Hilde setzte soeben zu einer Antwort an, die Wally klarmachen sollte, was in solch einem Fall zu tun sei, da sah sie Wallys Blick.
Tu es nicht, bettelte er, verlang nicht von mir, mutig zu sein und gegen meinen Mann aufzumucken. Ich würde sowieso und in jedem Fall den Kürzeren ziehen.
Hilde knirschte innerlich mit den Zähnen, schaffte es, ihren Mund zu halten, und stieg in Theklas Wagen, weil sie ja irgendwann losfahren mussten.
Wally, dachte sie, wird schließlich selbst am besten wissen, wie sie ihr Leben leben will – und leben kann.
Würde sie auf eigenen Füßen stehen können? Wohl nicht.
Vielleicht, sagte sich Hilde, ist es ja tatsächlich am gescheitesten, wenn Wally weitermacht, als sei nichts geschehen. Sepp Maibier bedeutet Sicherheit für sie. Als seine Ehefrau kennt sie keine finanziellen Sorgen, wird stets behütet – richtiger gesagt, bewacht, aber wer will schon pingelig sein. Sie kann sich tagaus, tagein ihren Lieblingsbeschäftigungen widmen: Haus und Garten dekorieren, Cremetorten backen, Golden Oldies auf Bayern 1 hören und ihrer Mutter Gedichte von Hermann Lanz vor …
Nein, das nicht mehr, rief Hilde ihre Gedanken zurück. Wallys Mutter ist schon seit gut zwei Wochen tot – ermordet von Oskar Pfeffer und Hermann Lanz. Plötzlich ließ sie die Hand sinken, die eben den Zündschlüssel ins Schloss stecken wollte, und wandte sich mit einem überraschten Ausruf an Wally. Die bemühte sich gerade, ihren Sicherheitsgurt zu schließen, und ließ ihn jetzt vor Schreck los, sodass er mit einem Zischen in die Halterung zurückfuhr.
»Deine Mutter passt nicht ins Bild«, sagte Hilde.
Wally sah sie verständnislos an.
Lanz hatte keinen Kontakt mit ihr«, erklärte Hilde.
Wally schien noch immer
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