Mord
Sorge, dass die Nachbarn zu ihr rüberschauten; es war ja wohl bemerkt worden, dass Polizeiautos vor dem Haus standen. Sie sah niemanden, doch vielleicht war da jemand hinter den dunklen Fenstern, die auf den Innenhof schauten.
Sie saß und dachte nach. Sie hatte Angst vor der Mutter dieses kleinen Peter. Wenn die nun hier auftauchte. Was musste die jetzt denken, von Hinrich, von ihr. Sie hatte die Mutter noch nie gesehen, aber es musste sie ja wohl geben. Und einen Vater. Was die wohl jetzt machten? Das musste ja entsetzlich sein. Zu erfahren, dass das eigene Kind getötet wurde. Kein Unfall, sondern ermordet. Ein Polizist hatte gesagt: Der ist wohl erwürgt worden. Der Tod des eigenen Kindes: Ein größeres Unglück kann es nicht geben für einen Menschen.
Doch es gibt noch ein Unglück. Wie soll eine Mutter es ertragen, dass ihr Sohn jemanden getötet hat? Wenn es wenigstens ein Unfall gewesen wäre, er eine alte Frau überfahren hätte. Aber ein Kind erwürgen? Es konnte gar nicht sein, Hinrich nicht. Es würde sich alles irgendwie aufklären. So wie sich ihre Hirngespinste und ihre Sorge früher auch aufgeklärt hatten, mit der schwarzen Olga Tschechowa, die den Führer bedrohte. Aber damals war sie krank gewesen, hatte eine Wochenbettpsychose nach der Geburt von Hinrich. Jetzt war sie nicht krank, und das Unglück lastete auf ihr und rührte sich nicht, drückte sie fest auf ihren Stuhl. Es musste eine Erklärung geben. Nicht Hinrich. Bei seinem Vater, dem windigen Hund, da konnte man sich alles vorstellen. Aber nicht Hinrich, ihr einziger Sohn. Und dann Mord, lebenslang. Er war doch noch so jung.
Am nächsten Tag betrat Magdalene pünktlich und adrett gekleidet das Polizeipräsidium. Ein Beamter in Zivil holte sie von der Pforte ab, führte sie durch das Gewirr der Treppen und Gänge und brachte sie ins Vernehmungszimmer. Dort warteten ein weiterer Beamter und eine Schreibkraft, die alles gleich in die Maschine hämmerte. Den Täter, so waren sie überzeugt, hatten sie bereits, dies also war die Mutter, und die sollte was zur Lebensgeschichte ihres Sohnes erzählen: so sie dazu bereit war. Sie musste nicht; da es um den eigenen Sohn ging, durfte sie jegliche Aussage verweigern.
Aber sie wollte reden. Magdalene redete und redete, vor wildfremden Leuten, und keiner verstand, warum sie das alles erzählte. Aber es wurde brav alles mitgeschrieben. Sie erzählte nicht von Hinrich, sondern ihre eigene Lebensgeschichte, von Anfang an, und irgendwann hatte die auch mit Hinrich zu tun, dem schlimmen Wochenbett, aber eben auch mit Hinrichs Vater, der Hunde und Katzen fraß, und den geschlechtlichen Trieben. Sie saß da, kerzengrade auf ihrem Stuhl, in einem lindgrünen Kleid, der blonde Helm auf ihrem Kopf bewegte sich nur wenig während ihres gleichförmigen Sprechens.
So erzählte sie, zur Wahrheit ermahnt, von ihren frommen und redlichen Eltern, den städtischen Messwartseheleuten Georg und Walburga Dollner, und ihrem vor ihrer Geburt verstorbenen Bruder. In Werl hatte sie acht Jahre die Volksschule besucht, in Dortmund Schuhverkäuferin gelernt. Nach der Lehrzeit verlor sie die Stellung, weil der Geschäftsinhaber starb, und sie wurde Alleinmädchen bei einem Bankdirektor in Düsseldorf. Danach hatte sie mehrere Stellen als Verkäuferin. Sie berichtete alles ganz exakt mit Namen und Adresse und genauen Arbeitszeiten. Entweder hatte sie ein phänomenales Gedächtnis für jeden überflüssigen Unsinn, dachte der Kommissar, oder sie schwatzte das alles so daher.
«Und dann», sagte sie triumphierend, «ging ich nach Genf, um dort als Volontärin Französisch zu lernen.» Sie sei dort Mädchen für alles gewesen und habe 80 Schweizer Franken in Goldstücken verdient. Davon habe sie ihrer Mutter monatlich 70 Franken geschickt. Sie beugte sich vor und sah dem Beamten, der auf der Schreibtischkante saß, von unten in die Augen: «Meine Mutter hatte das Geld dringend nötig, weil mein Vater für zwei außereheliche Kinder zu sorgen hatte.»
Dann lehnte sie sich wieder zurück und diktierte weiter in die Maschine; sie blickte immer wieder zu der Schreibkraft und achtete darauf, dass sie nicht zu schnell sprach.
«Nach meiner Rückkehr von Genf, es war dies im Jahr 1934 , habe ich bei Tack gearbeitet. Vergessen habe ich zu sagen, dass ich auch bei Postoberinspektor Karl Perlmann, Hochstraße 56 , als Hausgehilfin gearbeitet habe. Perlmann war ein sehr frommer Jude. Herr Perlmann ließ damals meine
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