Morddeutung: Roman (German Edition)
selbst dem »Mordopfer« eine Droge verabreichen konnte, die einen totenähnlichen Zustand herbeiführte, und weil er ja für die gerichtsmedizinische Untersuchung zuständig war. Ein am Tatort hinterlassenes Beweisstück sollte Banwell dann als Täter überführen. Clara redete Nora ein, dass sich das alles der Coroner ausgedacht hatte.
Nora erinnerte sich noch, wie erschrocken sie über die Kühnheit dieses Plans war. Sie fragte Clara, ob sie ihn wirklich für durchführbar hielt.
Nein, antwortete Clara. Denn sie konnte niemandem zumuten, die Rolle von Banwells Opfer zu spielen. Nein, sie musste ihr Schicksal einfach auf sich nehmen.
Da erklärte sich Nora bereit, es zu tun.
Clara reagierte scheinbar schockiert. Auf keinen Fall, antwortete sie. Die Frau, die die Rolle des Opfers spielte, musste zulassen, dass ihr wehgetan wurde. Nora fragte Clara, ob sie mit »wehtun« »vergewaltigen« meinte. Natürlich nicht, erklärte Clara, aber das Opfer musste mit einer Schnur oder einem Seil um den Hals gefesselt werden, und Clara musste wohl auch ein oder zwei Striemen hinterlassen. Nora beharrte darauf, es zu tun. Schließlich gab Clara nach, und sie setzten den Plan in die Tat um. Nora wusste nicht mehr genau, was im Balmoral passiert war, zweifellos aufgrund von Hugels katalepsieauslösendem Medikament. Sie erinnerte sich aber noch, dass Clara sie aufforderte, nicht zu schreien, und dass sie ständig ihren falschen Namen vergaß. Der Rest war in dichten Nebel getaucht.
Littlemore hatte mir aufmerksam zugehört. »Ich weiß, was als Nächstes passiert ist. Als Nora am Montagmorgen aufwacht, ist sie im Leichenschauhaus bei Hugel. Er hat schlechte Nachrichten für sie: Die Krawatte, die er am Tatort hätte finden sollen, die Seidenkrawatte mit Banwells Monogramm darauf, die Banwell als Täter überführen sollte, war nicht da. Der Grund dafür war natürlich, dass Banwell sofort durch den Geheimgang in die Wohnung gegangen ist, nachdem er von dem ›Mord‹ erfahren hatte. Er musste sein Zeug wegschaffen, damit wir ihn nicht mit Miss Riverford in Verbindung bringen.«
»Aber Banwell war Sonntagnacht mit dem Bürgermeister unterwegs. Hat Hugel das nicht gewusst?«
»Niemand hat was davon gewusst. Banwell war eigentlich zu einem Abendessen in der Stadt verabredet. Der Ausflug mit dem Bürgermeister nach Saranac hat sich erst in letzter Minute ergeben. Alles streng geheim. Clara hat auch nichts davon gehört, weil es im Landhaus der Banwells kein Telefon gibt. Clara fährt also in der Nacht heimlich von Tarry Town in die Stadt, veranstaltet so gegen neun ihren Zirkus mit Nora und verschwindet wieder. Sie hat Hugel angewiesen, den Todeszeitpunkt zwischen Mitternacht und zwei zu legen, weil Banwell spätestens dann zu Hause sein sollte.«
»Aber Banwell hat dort am nächsten Morgen seine Krawatte gefunden und sie weggeschafft, bevor Hugel angekommen ist.«
»Genau. Ohne die Krawatte steckt Hugel natürlich in der Klemme. Clara kann er nicht erreichen. Also beschließt er, einen weiteren Scheinüberfall zu inszenieren, diesmal in Noras Haus, wo wieder ein Beweisstück zurückbleiben soll. Er muss ja für Banwells Verurteilung sorgen, verstehen Sie? Das ist seine Abmachung mit Clara. Sie hat ihm zehntausend Dollar Vorschuss gegeben, und bei einer Verurteilung Banwells hätte er noch mal dreißigtausend gekriegt. Aber auch beim zweiten Mal ist irgendwas schiefgelaufen, was, weiß ich nicht. Hugel hat den Mund nicht aufgemacht.«
Hier konnte ich wieder die Lücken schließen. Nora hatte bei dem zweiten Überfall mitgemacht, weil sie immer noch glaubte, Clara zu helfen, und weil sie nicht wusste, wie sie all die Verletzungen erklären sollte, mit denen sie aufgewacht war. Bei dem zweiten »Überfall« sollte der Coroner sie nur fesseln und dann verschwinden. Auf keinen Fall sollten ihr weitere Wunden zugefügt werden. Und so war es auch. (Deswegen hatte sie gestern meine Frage nicht beantworten können. Ich hatte sie gefragt, ob sie von irgendeinem Mann ausgepeitscht worden war. Sie hatte Angst, mir die Wahrheit zu sagen, weil Clara geschworen hatte, dass Banwell sie – Clara – umbringen würde, wenn er es je herausfand.) Doch als der Coroner Nora gefesselt hatte, geriet er aus der Fassung. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Er schwitzte stark und hatte offensichtlich Mühe mit dem Schlucken, wie Nora berichtete. Er bedrohte sie nicht und belästigte sie auch nicht. Doch er zog immer wieder die Schnur um ihre
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