Mordloch
ihre Spaziergänge im Wald, an die lauen Nächte in seinem Auto und an all das, was sie miteinander getan hatten. Sollte sie das alles aufs Spiel setzen? Sollte sie ihn wirklich – erpressen? Jetzt oder nie? Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Wieder waren da diese Zweifel, an sich und der Welt, an ihm und überhaupt an allem. Was sollte sie bloß tun? Klicken – und abschicken? Würde er sich erpresst fühlen? Alles beenden? Den Traum zerstören? Sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen?
Sie atmete tief durch und starrte wie hypnotisiert auf das E-Mail, das irgendwie drohend auf dem Bildschirm darauf wartete, endlich abgeschickt zu werden.
Sie fröstelte jetzt stärker und begann zu zittern.
Sein Atem stockte. Da näherte sich ein zweites Auto, verlangsamte das Tempo. Sehen konnte er es aus dem Versteck heraus nicht, aber sein Gehör trog ihn nicht. Es musste ein Pkw sein, der ebenfalls in den Forstweg einbog. Der Mann im Höhlenschlund vernahm eindeutig das Knirschen der Kieselsteine unter den Rädern. Hinter ihm hallte das Platschen von Wassertropfen durch den felsigen Gang, monoton, im Sekundentakt, als sei’s ein Countdown.
Der Mann spürte plötzlich wieder die nassen Hosenbeine, die eisige Kälte, die seine Füße umgab. Er lehnte sich an die kantige Felswand und lauschte in die Nacht hinaus. Zwei Motoren im Leerlauf, Musik aus einem Radio, dann das Schlagen einer Wagentür. Jemand schien auszusteigen. Ein konspiratives Treffen? Der Mann im Höhlenversteck kämpfte gegen das Zittern. Wurde er Zeuge eines Verbrechens? Er, der gerade selbst eines verübt hatte? Eines, das schlimmer kaum sein konnte. Was, wenn eine dieser Personen auch etwas beseitigen wollte – hier, in dieser Höhle?
Er war aufs Äußerste angespannt, stets darauf gefasst, vorne im Bachbett, direkt vor sich, Schritte zu hören. Doch außer dem Brummen der Motoren und der Musik war da nichts. Erst nach einer halben Ewigkeit fiel wieder eine Autotür ins Schloss – vermutlich am Pkw, dessen Fahrer nun Gas gab. Es hörte sich so an, als würde der Wagen wenden und sich dann talaufwärts entfernen. Der Mann atmete auf. Doch die Gefahr war damit nicht gebannt. Er wagte sich ein paar Schritte nach vorne, um die Silhouetten der Fahrzeuge zu erkennen. Eindeutig: Ein Stück weit von dem Mercedes entfernt stand immer noch dieser Kastenwagen, aus dem die Musik herüber klang. Der Fahrer, das war aus dieser Entfernung zu erkennen, hantierte im Laderaum mit einer Taschenlampe und sortierte offenbar Kisten. Es vergingen fast fünf Minuten, bis der Lichtstrahl erlosch und die Schiebetür wieder zugezogen wurde. Die Schritte des Fahrers knirschten, als er um den Kastenwagen ging und sich wieder hinters Steuer setzte. Die Tür fiel dumpf ins Schloss, das Scheinwerferlicht des drehenden Fahrzeugs traf den schwarzen Mercedes, schwenkte dann aber talabwärts, strich quer über die Wiese und zur anderen Talseite hinüber. Der Kastenwagen hatte gewendet und wieder die Straße erreicht.
Er blinkte links, bog ab und entfernte sich rasch.
Der Mann in der Höhle wollte keinen Augenblick mehr länger an diesem schrecklichen Ort hier verbringen, begann zu rennen, stolperte über große Steine und spürte beim nächsten Tritt den kiesigen Untergrund. Er wollte weg, nur weg. Flüchten. Als er den Forstweg erreichte, hechtete er mit zwei kräftigen Sprüngen aus dem Bachbett und war Sekunden später an der Fahrertür des Mercedes, riss sie auf und erschrak, als sich die Innenbeleuchtung einschaltete. Er ließ sich erschöpft in den ledernen Sitz fallen und zog sofort die Tür zu, um damit das Licht zu löschen und den Motor zu starten. Noch 50 Meter bis zur Kreisstraße, dann würde er diesen Albtraum hinter sich lassen. Und alles würde zurückbleiben – als ob nie etwas gewesen wäre.
Als er in die Straße nach links einbog, fühlte er sich zum ersten Mal seit einer Stunde wieder frei. Es war ihm, als sei ein Kapitel abgeschlossen.
5
Das Monster ließ dunkle Rauchwolken in den Himmel steigen, zischte und entledigte sich regelmäßig des Überdrucks, der sich in seinem Inneren zusammengebraut hatte. Dicker Wasserdampf quoll wie Nebel aus unzähligen Leitungen. Als warteten die Urgewalten nur darauf, entfesselt zu werden. Ganz klar, das war eine E 75 11 18 aus den 20er-Jahren, wie jeder Dampfzugfan mit einem einzigen Blick erfreut feststellte. Wann immer die Ulmer Eisenbahnfreunde ihre nostalgischen Zugfahrten anbieten, was an mehreren
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