Mordloch
vergeblich, sein Schwäbisch zu verbergen und bekräftigte: »Wenn es so isch, dass wir des Thema nur abnicke dürfet, tret’ ich noch heut’ zurück.« Die Kollegin, die ihm gegenübersaß, teilte seine Einschätzung: »Ich sitz’ hier, um die Interessen Waldhausens zu vertreten – und auch wenn die Bürokraten in der Stadt behaupten, rein rechtlich sei nichts gegen dieses Projekt einzuwenden, lehne ich es ab.«
Jetzt erhob sich Wühler, ein großer stattlicher Mann knapp über 50, schlank und sportlich, mit leicht welligem braunen Haar und Schnauzbart: »Nicht als Ortsvorsteher möchte ich ein paar Sätze sagen«, begann er mit leicht unsicherer Stimme und löste sogleich einige Unmutsäußerungen der Zuhörer aus, »sondern als Privatbürger. Ich kann nur noch einmal feststellen, dass der Standort 400 Meter außerhalb des Ortes wäre und alle Berechnungen beweisen, dass in den Wohnbereichen keinerlei Geruchsbelästigungen zu befürchten sind.«
»Und bei Wind?«, rief ein Mann dazwischen. »Oder bei Nebel«, fügte ein anderer genervt hinzu. Wühler ließ sich nicht beirren: »Alle Wetterlagen und alle Windrichtungen sind in die Berechnungen eingeflossen.«
»Wühler gang hoim«, schrie eine aufgebrachte Männerstimme lautstark auf Schwäbisch, was Mayer dazu veranlasste, um mehr Sachlichkeit zu bitten.
Wühler setzte mutig hinzu: »Sehen Sie es bitte so, wie es ist: Der Privatmann Wühler stellt einen Antrag auf Baugenehmigung – und hat, auch als Ortsvorsteher, dasselbe Recht wie jeder andere Bürger. Wenn die Behörden sagen, das Projekt sei zulässig, dann sind auch alle Vorschriften eingehalten.«
»Vorschriften«, höhnte jemand aus der Zuhörerschar, »Hauptsache, die Vorschriften sind eingehalten. Was anderes interessiert in diesem Staat keinen mehr. Hauptsache, die Bürokraten sind zufrieden. Was das Volk denkt, ist denen doch scheißegal.«
Noch einmal erhob sich der zugezogene Flemming und ergänzte: »Ich sag’ nur eines, Herr Wühler.« Er machte eine kurze Pause und fixierte den Angesprochenen mit gefährlich zusammengekniffenen Augen: »Wenn das kommt, was Sie wollen, erleben Sie Ihr blaues Wunder.«
Der andere schluckte und presste hervor: »Wollen Sie mir drohen?« Seine Stimme verriet Angst. Es war plötzlich totenstill im Raum.
Flemming grinste und blickte in die Runde. »Hab’ ich das nötig?«, fragte er selbstbewusst zurück. »Eines Tages werden Dinge ans Licht kommen, Herr Wühler«, er holte zufrieden tief Luft, »da werden Sie staunen.«
An diesen Sommerabenden, wenn sich draußen in dem engen Tal die Abkühlung bemerkbar machte, herrschte in der urigen Gaststätte ›Obere Roggenmühle‹ jene gemütliche Geselligkeit, wie sie nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Großstädter liebten. Das Lokal, in einem uralten Mühlengebäude eingerichtet, bot schwäbische Küche und war vor allem durch seine frischen Forellen weithin bekannt. Diese züchtete Gastwirt Martin Seitz höchstpersönlich in den Teichen hinterm Haus, wie es auch bereits sein Großvater, den sie alle liebevoll den ›Hecken-Tone‹ nannten, schon getan hatte. Der Spitzname stammte aus jener Zeit, als der alte Seitz noch Bürgermeister von Günzburg war, wo er nach dem Krieg Gemüsegärten für die Bevölkerung anlegen ließ. Und weil diese nur von Hecken umgeben sein durften, hatte ihn der Volksmund zum ›Hecken-Tone‹ gemacht. Als er dann die ›Obere Roggenmühle‹ erwarb, um sich damit einen alten Traum nach Freiheit und Abenteuer zu erfüllen, blieb es bei diesem Namen.
Das Fachwerkgebäude war windschief und hatte manchen Sturm überdauert. Im Laufe der Zeit hatten die Nachkommen des Lokalgründers in der Einsamkeit des Tales, das tief in die Schwäbische Alb eingeschnitten war, zwei weitere Häuser bauen dürfen, sodass eine richtige Hofstelle entstanden war, ein Paradies für Tiere. Kinder freuten sich, wenn sie mit Ponys durch die Talaue am Bach entlangreiten konnten, der die Fischteiche speiste.
Die ›Obere Roggenmühle‹ hatte sich auch zu einer Kleinkunstbühne entwickelt. Vor dem Gebäude wurde im Sommerhalbjahr, geschützt durch eine Zeltkonstruktion, Kulturelles geboten. Wenn’s kühl war, fanden die Aufführungen aber in der winkligen Wirtsstube statt, droben im ersten Obergeschoss. Zu erreichen war sie über eine ausgetretene Holztreppe, an deren Ende meist Leo lag, ein riesiger, aber gutmütiger Hund, der nur vom Erscheinungsbild her seinem Namen alle Ehre machte. Ins
Weitere Kostenlose Bücher