Mordloch
Mal schienen sie neue Perspektiven zu entdecken, an denen die schnaubende Lok besonders romantisch wirkte. Oft genug kamen die Filmer auch dem Bahndamm bedrohlich nahe, sodass Kruschke das für eine Dampflok typische Warnsignal ertönen lassen musste. Er hatte allerdings den Verdacht, dass dies geradezu provoziert wurde, um das Video mit einem Originalton garnieren zu können.
Der zweite Mann auf der Lok wandte sich jetzt dem Höllenfeuer zu. Er öffnete die Klappe, hinter der die Feuersbrunst wütete, und schaufelte aus dem Kohlenbehälter neuen schwarzen Brennstoff in den Schlund des Monsters hinein. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, vermischt mit Rußpartikeln. Kruschke nickte seinem Kollegen aufmunternd zu. Der Zeiger des Instruments war bereits rückläufig gewesen, Nachschub also notwendig, um den Druck aufrecht zu erhalten.
Der junge Schaffner war nach der Abfahrt in Amstetten auf den ersten Waggon hinter dem an der Lok angebrachten Kohletender gesprungen – und fand seine Befürchtungen bestätigt. Drangvolle Enge, quengelnde Kinder, mürrische Alte. Sie hatten keinen Sitzplatz gefunden und warfen den Eisenbahnern mangelndes Organisationstalent vor. Metzger rang sich ein Lächeln ab und ließ sich mit humorvollen Bemerkungen die Fahrkarten zeigen. »Sie reisen heute so, wie vor hundert Jahren«, versuchte er die Passagiere zu besänftigen. »Damals hat man auf Luxus noch keinen großen Wert gelegt, sondern war froh, dass man einen Gleisanschluss hatte.« Die Menge murmelte.
Metzger hatte Mühe, sich einen Weg zu bahnen. Ein älterer Herr zupfte ihn an der Uniformjacke. »Entschuldigung«, sagte der Mann, der sich einen Sitzplatz ergattert hatte, »man kann doch sicher unterwegs aussteigen und mit dem nächsten Zug wieder zurückfahren?«
»Ja selbstverständlich. Wir fahren in Gerstetten um 13 Uhr wieder ab. Sie können aber auch erst am Spätnachmittag zurückfahren.«
Über das faltenreiche Gesicht des Mannes zuckte ein Lächeln. »Sagen Sie, dieses Waldhausen da oben – kennen Sie den Ortsvorsteher dort?« fragte er mit gedämpfter Stimme, aber noch laut genug, damit er das Rumpeln des Waggons übertönte.
Der Zug näherte sich seiner ersten Haltstation. Metzger hatte nicht viel Zeit. »Flüchtig, ja«, erwiderte er deshalb nur knapp und wollte sich in Richtung Tür davon machen. Doch der Fremde ließ nicht locker: »Meinen Sie, dass er an einem Tag wie heute auch zum Bahnhof kommt?«
Metzger richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber wenn unser Dampfzug fährt, ist hier meist alles auf den Beinen.« Und er fügte in Anspielung auf einen alten Westernfilm lächelnd und mit hörbarem Stolz hinzu: »Dann ist High-Noon in Waldhausen – und nicht nur dort.« Der junge Schaffner drängte sich durch die stehenden Menschen, die sich während der ruckelnden Fahrt an die Haltevorrichtungen klammerten. Vor den Fenstern zogen Dampfschwaden vorbei.
Die Fragen des Fremden hatten das Interesse seines Nebensitzers geweckt. »Sie kennen den Wühler nicht?«
»Oh doch«, erwiderte der Faltenreiche und lächelte viel sagend, »das ist doch der mit dem Schweinestall, stimmt’s?«
Der andere nickte nur. Dann stoppte der Zug. Stubersheim war erreicht, die Steigung bewältigt.
Durchs Fenster waren die Rotoren der Windkraftanlagen zu sehen. Sie ragten bewegungslos in den sommerlichen Himmel. Sarah Flemming streifte sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht und lehnte sich in dem bequemen Bürostuhl zurück. Es war kurz vor halb zwölf und Markus hatte sich noch immer nicht gemeldet. Dafür waren einige traumhafte Mails gekommen. Ihr Geliebter hatte heute Vormittag prompt geantwortet. Am liebsten hätte sie mit ihm in einem Biergarten den Sommertag genossen und später bei einem Spaziergang den Sonnenuntergang beobachtet.
Doch das blieben Träume, zumindest vorläufig. Dass Markus, ihr Ehemann, die ganze Nacht über weggeblieben war, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen, beunruhigte sie zwar, doch richtig traurig stimmte sie dies nicht. Allerdings erschienen ihr die Kreise, in denen er sich in jüngster Zeit bewegte, einigermaßen dubios zu sein. Das war bei weitem mehr, als es die Geschäfte vertrugen. Denn man konnte schneller in eine gefährliche Situation verwickelt werden, als es einem lieb war. Sie hatten oft schon darüber gestritten.
Jetzt griff sie zum Telefon und drückte zum wiederholten Male die Nummer seines Handys. Doch es war wieder nur die
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