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Mordsee

Mordsee

Titel: Mordsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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Hafenspelunken und was weiß ich, wo sonst noch. Ihre Frau musste mit ihrem pubertierenden Sprössling allein fertig werden. Viel Geld hatte sie auch nicht. Ist es nicht so?«
    In Jungs Stimme hatte sich ein tiefes Bedauern eingeschlichen. Er wandte sich um, legte die Unterarme auf die Reling und sah über das Hafenbecken hinweg an das jenseitige Ufer und auf die in langer Reihe stehenden Silos. Der Steward hatte die Kurbel fahren lassen, bückte sich und wühlte in seiner Angelausrüstung.
    »Und Ihre Frau?«, redete Jung unverdrossen weiter. »Sie müsste sich doch im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, wie ihr Sohn umgekommen ist. Ihr erster und einziger Sohn. Ihr Großer. Mein Gott! Ich weiß nicht, was … «
    Jung hörte Schritte hinter sich. Bevor er sich umdrehen konnte, durchbohrte ein flammender Schmerz seine linke Schulter. Er stürzte und schlug mit der Schläfe auf einen Decksbeschlag. Er hörte gellende Schreie und lautes Stöhnen. Dann verlor er das Bewusstsein.

Fünfter Tag
     
    Er schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht von Charlotte. Das Weiß ihrer Augäpfel leuchtete unnatürlich hell in dem Dämmer, der sie umgab. Keine roten Blutäderchen, keine geröteten Schleimhäute, keine dunklen Augenringe. Erst jetzt entdeckte er die schwarzen Einsprengsel in ihrer blaugrünen Iris. Die fein geschwungenen, zarten Augenbrauen passten nicht so recht zu den starken Jochbeinen und der kräftigen Kinnpartie. Die Gesichtshaut war straff und gut durchblutet, ihr Mund geschlossen. Warum gab es Frauen, die sich die Lippen aufspritzen ließen? Er schloss die Augen. Inmitten seiner Müdigkeit regte sich der Wunsch, noch einmal von vorne anfangen zu können.
    »Wo bin ich?«, flüsterte er.
    »Im Schiffslazarett.«
    Er rieb die Lippen aufeinander und befeuchtete sie.
    »Sie müssen trinken«, befahl Charlotte leise.
    Er spürte ein Glas an den Lippen und trank einen Schluck Wasser. Sein Hals schmerzte.
    »Was ist passiert?«, fragte er tonlos.
    »Es ist alles in Ordnung. Sie werden bald wieder gesund sein, sagen die Ärzte.«
    Jung sah sich orientierungslos um. Er bemühte sich, den Nebel in seinem Kopf zu durchdringen. Brust und Schulter schmerzten. Der Schlag seines Herzens pochte stechend in seinem Hals und machte ihm Angst.
    »Wie lang bin ich schon hier?«
    »Lang genug. Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?«
    »Es geht. Ich bin müde.«
    Er blickte an sich herab und sah, dass seine gesamte linke Seite vom Kinn bis zur Hüfte einschließlich des Arms in dicken Verbänden steckte. Sein Versuch, den Arm zu bewegen, endete in einer Lawine stechender Schmerzen in Hals und Schulter.
    »Sie dürfen sich nicht bewegen. Sie lagen drei Tage im künstlichen Koma. Ihre Halsschlagader musste geflickt werden. Sie brauchen absolute Ruhe.«
    »Was ist passiert?«, fragte Jung noch einmal heiser. »Erzählen Sie…«
    »Sie haben Glück gehabt. Sehr viel Glück.«
    »Was ist passiert? Bitte!«, setzte er müde nach.
    »Der Steward. Er ist mit dem Fischmesser auf Sie los. Ich konnte ihn nicht rechtzeitig aufhalten. Leider.«
    »Und was dann?«
    »Ich habe ihn außer Gefecht gesetzt.«
    »Wie?«
    Hinter seiner Mattigkeit spürte sie eine Ungeduld, die sie beunruhigte.
    »Ich habe den schwarzen Gürtel im Taekwondo. Ich war sehr schnell. Leider nicht schnell genug.«
    Jung lächelte und schloss die Augen.
    »Mehr, Bakkens. Was dann? Erzählen Sie!«, drängelte er.
    »Sie haben wirklich großes Glück gehabt«, lenkte sie ab. »Unwahrscheinlich großes Glück, wenn Sie mich fragen. Sie sollten dankbar sein und sich ausruhen. Das ist eine Empfehlung der Ärzte.«
    »Ja. Das sagten Sie schon«, stöhnte Jung. »Erzählen Sie. Bitte!«
    »Na gut«, gab sie nach. »Wie ich schon sagte, er stach von hinten auf Sie ein, hat aber nur das Schulterblatt erwischt. Das Messer ist abgerutscht, am Acromion, um ganz genau zu sein. Bevor ich ihn überwältigen konnte, hat er aus Ihrem Nacken und Ihrer Schulter Hackfleisch gemacht und die Halsschlagader beschädigt, die Arteria carotis externa. Dem Schiffssanitäter haben Sie es zu verdanken, dass Sie glimpflich davongekommen sind. Andernfalls wären Ihre Chancen, zu verbluten, ziemlich groß gewesen.«
    »Danke. Und dann?«, ächzte Jung.
    »Der Schiffsarzt hat Sie sofort ins Spital der kanadischen Marine überführen lassen. Nochmals Glück. Die haben da einen guten Gefäßchirurgen. Der hat das Chaos in Schulter und Nacken beseitigt und die Schlagader geflickt. Das künstliche

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