Mordsidyll
ich könnte mir vorstellen â¦Â« Ronald machte eine kurze Pause und räusperte sich. »Also, ich könnte mir vorstellen, mit dir auf deinem Hof zu leben. So, jetzt ist es raus.«
Anna blickte ihren Freund ernst an. Sie wollte ihm auf freundliche Weise einen Korb geben, biss sich dann aber auf die Lippen. Nach den Ereignissen der letzten Tage war ihre gesamte Welt aus den Fugen geraten. Es war wie ein Strudel, der sie immer tiefer hinunterzog. Ronald hatte die Kraft, sie zu befreien. Doch reichte das für ein ganzes Leben? Was war mit Zuneigung? Könnte sie ihn mit der Zeit richtig lieben?
Ronald schaute ihr direkt in die Augen. »Du brauchst mir jetzt keine Antwort zu geben. Aber versprich mir, gründlich darüber nachzudenken.« Er machte eine ausholende Geste. »Anna, uns bleibt nicht mehr viel Zeit, bevor wir alt werden. Ich habe beschlossen, keine Sekunde meines Lebens mehr zu vergeuden.«
Bevor Ronald noch mehr Erklärungen liefern konnte, legte Anna ihm zwei Finger auf die Lippen. »Pssst. Du brauchst nicht weiterzureden.«
Er seufzte. »Sollen wir jetzt vielleicht spazieren gehen?«, schlug er vor.
»Gerne.«
Gemeinsam schlenderten sie zum nahe gelegenen Wald. Anna kam es wie eine Ewigkeit vor, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, dabei liebte sie die Natur. Ihre Eltern hatten sie immer mitgenommen, um Pilze und Blaubeeren zu sammeln, die ihre Mutter dann zu Hause verarbeitet hatte. Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt, die ihr später fast unwirklich vorgekommen war. Als sie Mitte 30 war, wimmelte es in ihrem Bekanntenkreis vor familiären Konflikten und Beziehungsproblemen. Alle waren mit âºAufarbeitenâ¹ beschäftigt  â nur sie nicht. Im Vergleich zu den früh- und spätkindlichen Katastrophen ihrer Freunde war ihre Jugend völlig ereignislos verlaufen. Und was ihr angesichts der Probleme um sie herum schier unglaublich schien: Sie verstand sich bestens mit ihren Eltern. Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass sie gerade deswegen Menschen anzog, die mit Problemen beladen durchs Leben gingen und in ihr eine verständnisvolle Zuhörerin sahen. Daher empfand sie es als einen Wink des Schicksals, als sie Klaus traf. Endlich jemand ohne gröÃere seelische Lasten. Jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand und der als erwachsener Mann sein Leben selbst in die Hand nahm. Klaus war so wie sie gewesen.
»Wie war eigentlich deine Kindheit?«, fragte sie Ronald.
»Beschissen!«, antwortete er knapp, bevor er sich in einem Redeschwall erging, dessen Stichworte Anna in der Vergangenheit zu oft gehört hatte: Erfolgreicher Vater, Erfolgsdruck, immer Leistung, nie SpaÃ, Privatuni, Geschäft, Geld und noch mal Geschäft. Dabei wäre er so gerne wie alle anderen gewesen. »Ihr habt mich in der Schule doch alle für einen reichen, verwöhnten Pinkel gehalten â und ich wollte einfach nur dazugehören!«
Anna kannte solche Geschichten zur Genüge: Jeder bog sich seine Wahrheit zurecht, wie sie ihm gerade passte. Doch damit hatte sie gründlich aufgeräumt. Auch jetzt nahm sie kein Blatt vor dem Mund. »Ronald, du erzählst doch Blödsinn. Du warst in der Klasse der gröÃte Angeber. Du hattest immer die besten Sachen an und bist in der Oberstufe mit einem nagelneuen Auto vorgefahren. Bei deinen Geburtstagspartys wimmelte es vor Bediensteten. Wer will denn Klammerblues tanzen, wenn jemand mit einem Silbertablett vorbeikommt und Häppchen anbietet? Jetzt sag nicht, das hätten deine Eltern dir vorgeschrieben! Wundert es dich da wirklich, dass niemand etwas mit dir zu tun haben wollte, auÃer ein paar spieÃigen Speichelleckern, die sich einen guten Posten bei euch in der Firma sichern wollten?«
Ronald reagierte eingeschnappt wie ein kleiner Junge. Anna wusste, dass nur sie sich traute, mit ihm so offen zu reden.
»Und warum gehst du dann mit mir spazieren, wenn ich so ein Arsch bin?«, wollte er wissen.
»Nun ja, du warst einer. Aber ich glaube, du hast dich gebessert.« Sie lächelte Ronald beschwichtigend an. Dann hielt sie inne. Aus dem Wald ertönte ein leises, helles Läuten. »Hörst du das?«, fragte sie.
»Was ist das?«
»Ein traumhafter Ort, an dem ich schon sehr, sehr lange nicht mehr war!«, gab Anna zurück und beschleunigte ihre Schritte.
Hinter einer Biegung tauchte auf einer Lichtung eine kleine
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