Mordsidyll
vollen Behälter leeren! Heute wollte sie mindestens drei Fuhren auf die Felder ausfahren. Der Boden konnte die Düngung gut gebrauchen, und der Zeitpunkt war ideal, kurz bevor sie die Tiere auf die Weide bringen würde. Bei der Gelegenheit könnte sie gleich die Zäune kontrollieren. Es lag viel Arbeit vor ihr, sie musste sich sputen.
Vorsichtig schraubte Anna den armdicken Schlauch an dem Fass auf dem Wagen fest. Allzu oft passierte es, dass die Muffe verkantete und ein feiner Nebel KuhscheiÃe auf sie hinabrieselte. Das sollte ihr heute nicht passieren. Sie schaltete die Pumpe ein, die mit einem lauten Dröhnen den Dung durch den Schlauch beförderte. Zufrieden beobachtete sie den Vorgang. Alles war dicht. Jetzt musste sie nur noch darauf achten, dass die Gülle in dem Anhänger nicht überfloss. In Augenblicken wie diesen wünschte sich Anna, wieder zu rauchen. Sie mochte keinen Leerlauf. Entweder musste sie sich beschäftigen oder Pausen mit einer Tasse Kaffee in vollen Zügen genieÃen. Mit einer Zigarette würden die quälenden Minuten schneller vergehen. Allein wegen einer zeitraubenden Güllepumpe würde sie nicht wieder mit dem Laster anfangen  â früher hingegen hatte sie trotz des Leistungssports gerne geraucht.
Während sie wartete, lieà Anna die letzten Tage Revue passieren. Es war so viel passiert: Ronalds lieb gemeintes Angebot und nicht zuletzt der Besuch des Fernsehteams. Aber angesichts ihres Mordversuches und des Einbruchs verblasste dieser Höhepunkt. Auch wenn sie die Filmaufnahmen von ihrer Trübsal abgelenkt hatten, konnte sie nicht ignorieren, dass sie in Gefahr schwebte. Nicht umsonst war die Schrotflinte ihr ständiger Begleiter.
Anna schaute zum Kuhstall hinüber, um sich zu vergewissern, dass die Waffe immer noch griffbereit an der AuÃenwand lehnte. Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr, die in diesem Moment um die Ecke des Stalles bog. Erstaunt blickte Anna die fremde Person an. Es war ein kräftiger Mann, dessen platt gedrücktes Gesicht sie an einen Boxer erinnerte. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor. War der Eindringling, der über den Hof geflüchtet war, nicht auch so schwerfällig gewesen? Ein Anflug von Panik stieg in ihr auf. Schnell machte sie einen Satz zu ihrer Schrotflinte und spannte beide Hähne.
*
Ruste rekelte sich auf seinem Schreibtischstuhl. Schröder saà ihm seit geraumer Zeit stumm gegenüber und tippte ununterbrochen auf seiner Computertastatur. Ob sein Zögling wohl erwarte, dass ihm das Gerät den Täter automatisch präsentierte, wenn er nur lange genug davor hockte?
Ruste schnaufte abfällig und lehnte sich zurück. Er hatte schlechte Laune, noch schlechtere als sonst. Als er heute Morgen auf der Dienststelle eingetroffen war, hatte er sich doch tatsächlich von Junge eine Standpauke anhören müssen. Er habe mal wieder eigenmächtig gehandelt. Habe die Anweisungen nicht befolgt. Habe nichts in der Sache mit dem Schützenvogel unternommen. Er sei ein notorischer Eigenbrötler und so weiter. Junge war doch total bescheuert, geradezu fanatisch wegen dieses dämlichen Vogels!
Ruste lieà seinen Blick durch das karge Büro schweifen, um sich von seiner Wut abzulenken. Genau wie er es mochte, war der Raum funktional eingerichtet. Lediglich Poster, die vor Einbruch und Drogen warnten, schmückten die kargen Wände. Auch sein Schreibtisch war aufgeräumt, geradezu leer, was er nur seiner radikalen Ablagemethode zu verdanken hatte, alle Unterlagen unsortiert hinter die Türen der Büroschränke zu verstauen. Schröders Schreibtisch hingegen war mit Papieren überhäuft und rund um den PC-Monitor klebten gelbe Post-its mit Notizen. Ruste wusste aus Erfahrung, dass dies einen schlechten Eindruck bei den Vorgesetzten machte. Er würde seinen Schützling beizeiten noch in die Feinheiten des Kripodienstes einweisen müssen.
Ruste stand auf und wanderte gelangweilt zum Fenster. Er schaute vom oberen Stockwerk seines Büros zur Fassade des Supermarktes auf der gegenüberliegenden StraÃenseite hinunter. Dort hing wieder ein neues Plakat. Obwohl die Reklame jeden Monat wechselte, waren es seit Jahren immer die gleichen Frauen, die ihn von der Werbewand anlächelten: feenhafte Geschöpfe mit blitzblanken Zähnen, jung geblieben, während er mittlerweile grau geworden war. âºFrisch eingetroffen:
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