Mordskerle (German Edition)
längere Zeit sich selbst überlassen durfte.
Und jetzt hatte sie nicht einmal das Garagentor hinter sich geschlossen?
Lena parkte ihren Porsche direkt hinter dem Citroen, stieg aus und eilte, ohne zu zögern um das Haus herum, wo sie zielstrebig über den makellos gepflegten englischen Rasen schritt, um schließlich von der Sonne überfluteten Terrasse anzukommen.
Das, was sie hier erwartete, traf sie unvorbereitet.
Chaos, wohin sie auch blickte.
Chaos und Katastrophe.
Auf den Fliesen lagen alte Illustrierte, einige Blätter wehten lose durch den Garten, während sich gleichzeitig das schmutzige Geschirr mehrerer Mahlzeiten auf dem Tisch und sämtlichen Sitzmöbeln stapelte.
Essensreste, von ekelhaften bläulich schimmernden Fliegen besucht, verdarben in der Nachmittagshitze. Servietten, von Annelies aufdringlichem, weil viel zu rotem Lippenstift fleckig, lagen herum, und mehrere leere Weinflaschen rollten sacht, wie von einer unsichtbaren Hand immer wieder angetippt, über den Terrassenboden.
Ein zur Hälfte geleerter, französischer Rosé Jahrgang 1983, leider unverschlossen geblieben, nachdem man ihn genossen hatte, verbreitete den unerträglichen Geruch von Alkohol, der endgültig sauer geworden war.
Lena war einen Moment lang versucht, sich in dramatischer Geste ans Herz oder doch wenigstens an die Stirn zu greifen. Was ging hier vor? Was war geschehen? Mord, Totschlag, Kidnapping schoss es ihr in eben dieser Reihenfolge durch den Kopf. Allerdings, wer sollte Annelie umbringen oder entführen wollen? Wer sie näher kannte, würde entsetzt angesichts der bloßen Frage zurückprallen, rief Lena sich deshalb im nächsten Augenblick bereits zur Vernunft.
Kein Mord, kein Totschlag, auch keine Entführung, sondern höchstwahrscheinlich nur ein großes Besäufnis, eine Orgie, denn auch dazu neigte Annelie bedauerlicherweise hin und wieder, war Lena ehrlich mit sich selbst, um sogleich kritisch hinzu zu fügen, dass Annelie von ihnen beiden zweifelsfrei jene mit der schlechteren Erziehung war.
Da sie aber nicht geduldig hier stehen und abwarten konnte, wie sich die Situation entwickelte, gab sie sich einen energischen Ruck und betrat durch die offen stehende Terrassentür das Haus.
Es überraschte sie kaum noch, dass sich hier das Chaos fortsetzte. Annelie hatte irgendwann vergessen, den Fernsehapparat auszuschalten. Gerade flimmerte eine der banalen Nachmittag-Talkshows über den Bildschirm. Titel: „Mein Mann will keinen Sex mehr!“ und Lena, die eine halbe Minute lang stehen blieb, um dem Redeschwall der blonden Moderatorin zu lauschen, schüttelte resigniert den Kopf, ehe sie den Apparat zum Schweigen brachte. Hatte dieses Land tatsächlich keine anderen Sorgen als die Antworten auf solche schwachsinnigen Aussagen kund zu tun?
In der Diele war es zwar kühl, aber unerfreulicherweise seit Tagen nicht gelüftet. Es roch auch hier nach Alkohol, als hätte man den Teppich damit getränkt. Außerdem wurde dieser Geruch noch überlagert von einem merkwürdig süßlichen Duft, der in Lena keinerlei Assoziation wach rief. Was war das? fragte sie sich irritiert, und weil ihr darauf niemand antwortete, blieb ihr nichts anderes übrig, als kurz und entschlossen an Annelies Schlafzimmertür zu klopfen, um unmittelbar danach einzutreten.
Im nächsten Augenblick wünschte sie sich bereits, das niemals getan zu haben, denn alles, was sie zunächst sah, war das nackte Hinterteil eines Mannes.
Dann erkannte sie im Zwielicht, das die zugezogenen Vorhänge gerade noch erlaubten, die Bettdecken, die auf dem Boden lagen, zwei nackte Körper, ein Bein, einen Arm, die schwarze Haarflut einer Frau, sah den schlanken, sehnigen Rücken des Mannes, der die Frau beinahe völlig zudeckte, und vernahm die ganze Zeit den raschen, heftigen Atem des Paares.
Nein, Annelie war weder entführt noch umgebracht worden.
Sie hatte sich lediglich wieder einmal mit einem jungen Liebhaber hier in der Villa getroffen. Sie schlief mit einem schönen, dunkelhaarigen Mann und das wahrscheinlich seit Tagen mit zuverlässiger Regelmäßigkeit.
Eine weitere Erklärung brauchte Lena nicht dafür, dass alle ihre Anrufe von Annelie nicht beantwortet worden waren und gleichzeitig begriff sie jetzt auch, wieso dieses Haus im Chaos zu versinken drohte.
3. Kapitel
„ Mein Gott, ich bitte dich, sei doch nicht so entsetzlich pingelig“, sagte Annelie Klüver lapidar, als sie zu ihrer Tochter hinaus auf die Terrasse trat, um im nächsten Moment
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