Mordskerle (German Edition)
sich sorgte, dann war sie zu allem fähig, zumal sich ihre Sorge wieder einmal ausschließlich auf Annelie konzentrierte. Seit Lena gestern Abend gegen elf Uhr nach einem Theaterbesuch in ihre Hamburger Wohnung zurückgekehrt war, versuchte sie, Annelie zu erreichen, doch im Ferienhaus, wo sie sie eigentlich vermutete, ließ sie sämtliche Telefone zwar ausdauernd, allerdings vergebens klingeln.
Annelie nahm den Hörer nicht ab und kein Gespräch an.
Auch jetzt wählte Lena noch einmal die Nummer des Ferienhauses, während sie, das Mobiltelefon am linken Ohr, die rechte Hand am Lenkrad, gleichzeitig einen Bonbon blauen Mercedes von der linken Spur scheuchte. Sie hatte noch nie irgendwelche Skrupel gehabt, Mercedesfahrer zu Tode zu erschrecken, so auch jetzt nicht.
Als sie an dem anderen Wagen vorbei rauschte – den Blick auf den Tachometer brauchte sie nicht, sie hatte es im Gefühl, welches Tempo für ihren Wagen das richtige war, sagte sie immer – verzog sie den Mund zu einem herablassenden Lächeln.
Natürlich hockten in dem Mercedes ungefähr fünfhundert Jahre, die sich auf vier Personen verteilten, stellte Lena geringschätzig fest. Einmal mehr fügte sie in Gedanken hinzu, dass jedem, der über Fünfzig war, die Fahrerlaubnis entzogen werden sollte, weil so alte Menschen längst nicht mehr Herr ihrer fünf Sinne und erst recht nicht über ihr Reaktionsvermögen waren.
Lena war einunddreißig und der Ansicht, noch Lichtjahre von jener magischen Fünfzig entfernt. Auch deshalb wiegte sie sich gewissermaßen in Sicherheit.
An der nächsten Abfahrt verließ sie die Autobahn und brauste in gerade noch für die Landstraße zulässiger Geschwindigkeit hinunter in die Feriensiedlung. Hier besaßen Annelie und sie ein Haus, eines von mehreren, korrigierte sie sich fairerweise. Vielleicht war es deshalb so schwierig, Annelie zu erreichen.
Wenn Lena sie hier nicht an das Telefon bekam, dann war Annelie möglicherweise inzwischen entlang der Ostseeküste weiter gereist. Sie konnte ja wählen zwischen einem Bungalow an der Kieler Förde sowie einem Apartment in der Holsteinischen Schweiz, von dessen Balkon sie einen Blick über die gesamte Seenplatte hatte…
Auf dem letzten Kilometer durch das Dörfchen sah Lena sich gezwungen, hinter einem uralten VW her zu bummeln, aber inzwischen hatte ihr Ehrgeiz sie ohnehin verlassen.
Sie wollte nicht durch den kleinen Ferienort rasen. Schließlich waren Annelie und sie hier seinerzeit mit offenen Armen als Gäste empfangen worden. Das gute Verhältnis zu den „Eingeborenen“, wie Annelie gerne ironisch anmerkte, sollte nicht durch profanes Vorwärtsdrängen und Beiseiteschieben gestört werden.
Das „Häuschen“ nannte sie ihr Feriendomizil in unaufrichtiger Bescheidenheit, dabei war es eine stattliche Villa mit einer Wohnfläche von fast zweihundert Quadratmetern und einem Grundstück ringsum, das die Einrichtung eines Tennisplatzes sowie eines Swimmingpools mühelos verkraftete. Und selbstverständlich hatte man von fast allen Fenstern aus einen Atem beraubenden Blick auf die Ostsee!
Lena war also, was diesen Luxus betraf – und nicht nur hier! – in gewisser Weise verwöhnt, denn Wohnen mit Seeblick galt als nichts Besonderes mehr, weil sie es seit frühester Kindheit nicht anders kannte.
Über ihren Lebensstandard hatte sie sich zu keinem Zeitpunkt ihrer einunddreißig Jahre Gedanken oder gar Sorgen machen müssen. Immer war alles da gewesen: Altstadtvilla in Uhlenhorst als Hauptwohnsitz, Ferienhäuser sowie Ferienapartments an Ost- und Nordsee, ebenso im Landesinnern. Inzwischen ihr eigenes, sehr komfortables Loft in Blankenese, hier selbstverständlich mit Blick auf die Elbe – und eine Menge anderer, netter Annehmlichkeiten, zu denen auch ihr schwarzer Porsche gehörte.
Während Lena jetzt den Wagen auf das schmiedeeiserne Tor zusteuerte, das sich automatisch für den Porsche öffnete, erkannte sie schon von weitem Annelies Auto in der Garage und das war nur möglich, weil das Garagentor offen stand. Lena konnte nicht verhindern, dass ihre Besorgnis, die sich vorübergehend gelegt hatte, sofort wieder rapide wuchs.
Annelie liebte ihr Auto über alles!
Das bewies alleine schon ihre kindische Angewohnheit, im Laufe eines Abends, den ihr zwar älterer, jedoch absolut komfortabler Citroen nicht in der sicheren Garage stand, ein Dutzend mal nach ihm zu schauen, als handle es sich dabei um einen betagten, kränkelnden Verwandten, den man keinesfalls
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