Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Geschwister wurden vernachlässigt, sagen die Nachbarn.«
»Selbstverständlich kann so etwas bloß Asozialen passieren.« Paulas Ton fiel bissiger aus als gewollt.
»Nein, aber …«
»Doris«, ereiferte sich Paula, »die Frau mußte ganztags arbeiten. Sie hat drei Kinder und einen Exmann, der keinen Unterhalt zahlt.« Paula hatte allmählich genug von der Geschichte. In der Redaktion war sie Thema Nummer eins, bei den Müttern ging die Angst um wie eine ansteckende Krankheit. Nun hatte das Virus offensichtlich auch die eher besonnene Doris infiziert. Paula war froh, als Simon kam und ihr Gespräch unterbrach.
»Kann ich Max meinen Schnuffi zeigen?«
»Aber der schläft doch jetzt.« Paula verteidigte die natürlichen Bedürfnisse des Goldhamsters. Schnuffi war die jüngste Errungenschaft. Irgendein Tier braucht ein Kind, hatte Paula sich von den Mustermüttern sagen lassen.
»Aber er ist wach. Er hat gerade was gefressen!« Simon war schon am Käfig, der nun den Platz auf dem Küchenschrank einnahm, wo bisher der Brotkasten gestanden hatte. Max beobachtete, wie Simon das weißbraune Tier in die Hand nahm. Die Schnurrhaare vibrierten ängstlich um die kleine rosa Schnauze.
Max zerrte an Simons Arm. »Ich will ihn auch mal!«
»Lieber nicht«, meinte Simon mit sachverständiger Miene, »er ist noch nicht so zahm.«
»Aber ich will ihn mal!« Max stampfte mit dem Fuß auf den Boden.
»Du darfst ihn mal streicheln.« Max strich dem Hamster über den Kopf, was diesen wohl erschreckte, denn er ließ ein leises Fauchen hören.
»Siehst du«, sagte Simon triumphierend, »er will nur zu mir. Er ist nämlich mein Freund.«
»Ich bin dein Freund. Der Hamster ist blöd.«
»Ist er nicht! Du bist blöd!«
»Blöder Hamster, blöder Hamster …«
»Max!« rief Doris. »Bitte, nicht so laut. Paula und ich möchten uns gerne unterhalten.«
»Simon, bring ihn wieder in den Käfig«, ordnete Paula an, »und dann spielt am besten in deinem Zimmer.« Simon murmelte etwas, das nach Protest klang, aber er gehorchte. Zum Öffnen des Deckels benötigte er beide Hände, und so setzte er Schnuffi für einen Moment auf den Küchenschrank. Den nutzte Max. Blitzschnell schloß sich seine kräftige Hand um den Hamster. Der gab einen pfeifenden Laut von sich.
»He, laß ihn los, du drückst ihn zu fest!« schrie Simon.
»Laß ihn los!« befahl Paula scharf.
»Blöder Hamster, ich bin dein Freund«, sagte Max, verzog das Gesicht zu einer beleidigten Grimasse, der Hamster machte ein schnarrendes Geräusch, dann quollen ihm schmatzend die Gedärme aus dem After. Simon stand wie versteinert und riß in ungläubigem Entsetzen den Mund auf, ebenso Paula.
Auf den spitzen Schrei seiner Mutter hin ließ Max den Hamster auf den Küchenboden fallen, ein Klumpen aus Fell und Eingeweiden, dessen Vorderbeine noch in einem letzten Reflex zuckten. Ein kleines Rinnsal hellrotes, fast wäßriges Blut sickerte über die rauhen Holzdielen. Paula wußte, daß sie diesen Anblick nie wieder vergessen würde. Simon auch nicht. Sie verlor die Beherrschung und packte Max, der ruhig dastand, am Arm, drehte ihn zu sich herum und schlug ihm zweimal mit dem Handrücken ins Gesicht. Seine Unterlippe platzte auf und begann zu bluten.
Doris sprang auf. »Paula, nicht! Du tust ihm weh! Es war sicher nicht Absicht.«
Paula stieß Max angeekelt von sich. »Schaff ihn raus«, flüsterte sie heiser, »raus mit ihm! Ich will ihn nie wieder hier sehen. Das ist kein Kind, das ist ein Monster!«
Hektisch raffte Doris ihre Sachen zusammen und schob Max vor sich her, der sich das Blut demonstrativ übers ganze Gesicht schmierte und herzerweichend vor sich hin wimmerte. Paula bugsierte den inzwischen laut heulenden Simon aus der Küche und hörte, wie die Haustür zufiel. Am ganzen Körper bebend lehnte sich Paula gegen die Wand. Dann stürzte sie ins Klo und erbrach sich.
Der Anfang war wie immer. Ihr Gesicht war eine schmerzende Masse, das fremd aussah in dem trüben Spiegel, der im langen, schmalen Flur ihrer elterlichen Wohnung hing. Die Ränder ihrer Lippen zerflossen rot, wie eine aufgeplatzte Frucht, sie schmeckte die zähe Süße des eigenen Blutes in ihrem Mund, während da drinnen, in der Küche, der Lärm andauerte. Stahlrohrstühle klapperten auf Linoleum, dazwischen Schreie und ein Geräusch, als klatsche man ein nasses Wäschestück gegen eine Wand. Sie zuckte jedes Mal zusammen, spürte den Laut mit jeder Faser ihres Körpers, ihre Ohren summten.
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