Mordsschock (German Edition)
Also bezog ich wieder meinen Posten hinter dem Baum.
Eine weitere halbe Stunde verstrich, ohne dass etwas geschah. Allmählich fragte ich mich, was ich erwartete.
Als ich gerade aufgeben wollte, öffnete sich die Haustür bei Emilie Steinhauer, und Huber kam heraus. Er winkte, sprang ins Auto und brauste davon.
Im Eingang stand eine grauhaarige Frau, die ihm hinterherwinkte. Sie wirkte nicht gefährlich.
Ich beschloss, diese Emilie Steinhauer nach Huber auszuquetschen.
Fünf Minuten später drückte ich den Klingelknopf.
Mit fragendem Gesicht öffnete dieselbe Frau, die Huber eben verabschiedet hatte. „Ja, bitte?“
„Äh, ich bin eine Bekannte von Herrn Huber. Wir haben uns hier verabredet. Ist er da?“
„Leider nicht“, bedauerte sie.
„Zu ärgerlich! Ich habe nämlich eine Reifenpanne. Blöderweise habe ich mein Handy zu Hause vergessen. Darf ich bei Ihnen den Abschleppdienst anrufen?“, log ich.
„Natürlich!“ Emilie Steinhauer wackelte mit ihren aufgequollenen Füßen, die in braunen Hauspuschen steckten, einen Schritt rückwärts und bat mich herein.
Duft nach frisch gebrühtem Tee zog durch die altmodisch möblierten Räume. Häkeldeckchen auf den Kommoden, Seidenblumen in der Vase und ein bunter Läufer über dem Veloursteppich. Das Telefon stand beim Essplatz.
Ich wählte irgendeine Nummer und tat so, als unterhielte ich mich mit dem Abschleppdienst. „Dauert eine Weile, bis die kommen“, teilte ich anschließend Emilie Steinhauer mit.
„Möchten Sie eine Tasse schwarzen Ostfriesentee?“
„Gerne.“
Auf dem antik gebeizten Esstisch stand weißes Teegeschirr, vermutlich von Hubers Besuch. Emilie Steinhauer schob zwei Stühle mit geschnitzten Lehnen und Herzkissen heran und hob die Kanne vom Stövchen.
An den Wänden mit der grüngemusterten Tapete hingen gerahmte Fotos. Da, das Vollponytoupet im Goldrahmen – Huber!
Emilie Steinhauer schenkte Tee ein. „Woher kennen Sie Horst?“
„Ich bin eine Kollegin.“
„Ach, dann arbeiten Sie wohl auch im Rathaus? Ja, Horst, der hat es weit gebracht! Ich bin seine Großtante. Er kümmert sich reizend um mich. Jede Woche besucht er mich, erzählt mir die Neuigkeiten aus der Stadt und bringt etwas mit.“ Sie deutete auf einen Kasten mit Marzipanherzen.
Höchste Zeit, um abzuhauen! Aber ich hatte die Rechnung ohne Hubers Großtante gemacht. Die Schwallerei schien in dieser Familie erblich. „Horst war so ein entzückendes Kind. Wollen Sie mal sehen?“
Ehe ich ablehnen konnte, schlurfte sie ins Nebenzimmer und schleppte in Leder gebundene Fotoalben an, in denen Hubers gesamte Entwicklung vom Baby bis zum Bürgermeister dokumentiert war. Leider in zehn Bänden! Außer meiner Strafe für zu schnelles Fahren erhielt ich jetzt eine für unverschämte Neugier aufgebrummt. Geschlagene zwei Stunden breitete Emilie Steinhauer die langweiligen Geschichten der Familie Huber/Steinhauer vor mir aus. Alle harmlos bis zum Abwinken, nicht die kleinste verdächtige Spur.
Ich fühlte mich, als ob jemand mit einer winzigen Nadel in meine Enthusiasmus-Blase hineingepiekst hatte. Die Luft entwich. Boing! Die prall aufgeblasene ‚Huber als Verdächtigen-Idee‘ zerplatzte.
„Nina, ich wollte mich von dir verabschieden.“ In Vics Stimme schwang die gesamte Dramatik mit, zu der eine Elfjährige am Telefon fähig war.
„Verabschieden? Was soll das heißen?“
„Ich gehe fort!“ Theatralisches Zittern.
„Wohin denn?“
„Weit weg!“
Aha, es hatte mal wieder Ärger gegeben, und Vic packte ihre Sachen. Genauso wie ich es in ihrem Alter als Reaktion auf Bestrafungen jeder Art zweihundertsiebenundsiebzig Mal getan hatte. Ich kam stets nur bis zur Wohnungstür, weil ein Blick in Mutters traurige Augen genügte, um meine Reisepläne ad acta zu legen. Vic befand sich in einer schlechteren Position als ich damals. Sie konnte nicht mehr in Mutters Augen schauen. Und Sophies Augen waren nicht dasselbe. So behutsam wie möglich erkundigte ich mich: „Kleines, was ist passiert?“
„Ich bin nicht klein!“, fauchte sie. Vics Abwehrmechanismus gegen unangebrachte Zärtlichkeiten funktionierte ad hoc. „Diese beschissene Votz...“
„Vic, das ist ein vulgärer Ausdruck, den nur drittklassige Pornoautoren verwenden.“
„Meinetwegen! Da is so ’n blöder Brief von der Schule gekommen.“
Eine Sekunde lang dachte ich an meine Abmahnung. Wie Vic und ich uns ähnelten! „Ein Blauer etwa?“
„Der Umschlag war weiß. Jedenfalls is das ‘n
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