Verfuehrung in Gold
Kapitel 1
Dezember 1844,
außerhalb Londons
D er Sturm war erst vor wenigen Stunden abgeklungen und hatte die Landschaft unter beinahe zwanzig Zentimetern Schnee begraben. Mondlicht und Fackelschein brachten den vereisten Garten zum Glitzern. Der Anblick hinter dem kalten, harten Fensterglas rührte an Emma Jensens Herz. Die Natur hatte sich die elegante Laube zurückerobert, die Wege verschwinden lassen und die scharfen Kanten und Winkel der geschnittenen Hecken weich gezeichnet. Dieser Garten, so penibel von Menschenhand geformt, lag unter sanften Hügeln aus Schnee verborgen. Wie musste es sich anfühlen, so mühelos vernichtet zu werden? So lautlos.
Von ihrem Seufzen beschlug das Glas, womit ihr die Sicht auf die Szenerie draußen genommen war. Sie richtete sich auf und blickte in das helle Gewirr des Ballsaals. Langeweile hatte sich eingestellt, und langweilte Emma sich, überkam sie eine unsinnige Melancholie. Ihr Leben war schließlich nicht schlecht, oder würde es zumindest eines Tages nicht sein.
»Lady Denmore!«
Emma blickte auf, lächelte und drehte sich zu der angetrunken klingenden Stimme um.
»Lady Denmore, Ihre Anwesenheit wird dringend in der Halle verlangt.«
»Mr Jones, wie kann das sein?« Emma bemühte sich, unbekümmert und nett zu klingen.
»Matherton und Osbourne haben ein Rennen arrangiert und möchten, dass Sie den Start ausrufen.«
Eine Ablenkung, wie schön. Emmas Lächeln wurde natürlicher, und sie verließ am Arm des dünnen jungen Mannes ihren eisigen Tagtraum.
Kichern und laute Stimmen hallten durch das Deckengewölbe in der Halle von Wembley House. Alle Augen waren auf den oberen Absatz der geschwungenen Treppe gerichtet. Dort gingen die Lords Matherton und Osbourne, beide Angehörige des Hochadels, in die Hocke, um sich auf zwei große Silbertabletts zu setzen. Sobald sie saßen, rutschten sie über den Perserteppich zur Treppenkante.
»Dies soll ein Rennen sein?«, fragte Emma lachend, während sie die beiden Herren mit einem Blick einschätzte. »Ich setze fünfzig Pfund auf Osbourne.«
Plötzlich trat eine Stille ein, als hätten sämtliche Leute in der Halle aufgehört zu atmen. Gleich darauf explodierten die Rufe der Wettenden für den Einsatz. Emma trat lächelnd auf die unterste Stufe und wollte nach oben steigen, um das Rennen zu starten, als ein Brüllen sie innehalten ließ.
»Ho-ho! Der Starter darf nicht auf das Rennen wetten!«
Emma zuckte nur mit den Schultern und trat beiseite, auf dass eine der anderen Damen ihre Funktion übernahm. Sollte es doch eine tun, die nicht unter dem Fluch stand, auf den Ausgang jedes Wettbewerbs setzen zu müssen.
Ein Moment verging, dann fiel ein Taschentuch zu Boden und die Männer stießen sich von der obersten Treppenstufe ab. Gaslicht spiegelte sich in den großen Silbertabletts, als sie mit verblüffender Geschwindigkeit die Treppe hinunterschossen. Emma hielt den Atem an – jeder hielt den Atem an –, und die Menge unten teilte sich in Anbetracht der nahenden Gefahr.
Fast hätte Emma die Augen geschlossen, weil sie sich vor dem Aufprall fürchtete, der die beiden Männer ohne Frage erwartete; doch sie hatte nun mal fünfzig Pfund auf diesen Irrsinn gesetzt, und so musste sie zusehen, wie die Männer nach unten sausten. Osbournes schwere Statur geriet ihm zum Vorteil. Emma nickte zufrieden, als er dramatisch unten landete, begleitet von einer Kakophonie kreischenden und scheppernden Metalls und lautem Stöhnen.
Beinahe sofort zerstreuten sich die Zuschauer wieder, wandten sich ihren Drinks und dem Klatsch und Tratsch zu. Unterdessen bahnte Emma sich ihren Weg zwischen den Gästen hindurch zu Osbourne, um nach ihm zu sehen. Matherton, wie sie feststellte, hatte sich bereits aufgerichtet und stand lachend mit seinen Freunden zusammen.
»Osbourne«, rief sie an einer kleinen Gruppe Diener vorbei, »sind Sie verletzt?«
»Nur mein Ellbogen«, ächzte er.
»Oh, Lord Osbourne«, hauchte Emma, kaum dass sie sein hochrotes Gesicht erblickte. »Sagen Sie mir bitte, dass er nicht gebrochen ist.«
»Nein, nein, bloß ein wenig angestoßen.«
»Gott sei Dank. Lady Osbourne würde mir den Kopf abreißen, hätte ich Sie ermutigt, sich zu verletzen.«
»Mir gleichfalls.«
»Kommen Sie, Mylord, sehen wir nach, ob Eis da ist …«
»Henry!«
»Oh nein«, stöhnte der Earl leise.
»Oh nein«, stimmte Emma ein. »Nun … falls Lady Osbourne Ihnen zu Hilfe gekommen ist, überlasse ich Sie besser ihrer Fürsorge.«
»Aber
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