Mordwoche (German Edition)
nicht vor. Lief es in einem Monat einmal nicht so gut im Salon, dann war es für Otto und Gerda König selbstverständlich, dass nur ihre eigene Lohntüte schmaler ausfiel oder auch mal leer blieb. Ihren Mitarbeiterinnen, die für sie Teil ihrer Familie waren, bezahlten die Königs jeden Monat pünktlich den tariflich vereinbarten Lohn und legten an Weihnachten und an Geburtstagen einen großzügig gefüllten Umschlag obendrauf.
Die Dielen des alten Stadthauses knarzten, als Gerda König im dunklen Flur in Richtung Küche lief. Das markante rote Gebäude in der Innenstadt von Bärlingen war schon seit mehreren Generationen im Familienbesitz und Otto König lebte hier seit seiner Kindheit. Gerda König liebte die Ruhe am Morgen und genoss das Zeitunglesen in der Küche. Seit ein paar Tagen wurde dieses Vergnügen noch von einer Tasse frisch gebrühtem Cappuccino mit fluffiger Milchschaumhaube gekrönt. Auf Knopfdruck setzte sich das Mahlwerk des Vollautomaten in Gang, die Kaffeebohnen rüttelten sich in Position und das Schnorcheln des Milchaufschäumers vollendete das Kaffee-Kunstwerk. Otto hatte sie mit diesem Hightech-Gerät überrascht und Gerda hatte es schon nach der ersten Tasse in ihr Herz geschlossen. Ihr Otto war einfach der Beste!
Dass er ihr allerdings bei der Angelegenheit mit dem Finanzamt weiterhelfen konnte, das bezweifelte Gerda König. Erstens nahm ihr Mann die Dinge so wie sie kamen und fügte sich in das, was er nicht ändern konnt e und zweitens hatten sie beide nach einigen Testläufen beschlossen, dass die Buchhaltung besser in den Händen von Gerda aufgehoben sei. Otto war also weder moralisch-emotional noch in Bezug auf die Sachlage der Fakten eine wirkliche Hilfe. Es war zum Haare raufen! Diese Deppen vom Amt hatten doch keine Ahnung vom Geschäft! Die vom Finanzamt veranschlagte Menge Shampoo hatte nicht im Entferntesten etwas mit der Alltagsdosierung im Friseurgeschäft zu tun. Ganz abgesehen davon nahmen auch einige Kunden gern ein kleines Fläschchen Gratis-Shampoo mit nach Hause, dessen Verbleib vielleicht nicht immer den vorgeschriebenen Weg in die Buchführung fand. Das allerdings wollten die Buchprüfer schon bei der persönlichen Ortsbegehung nicht verstehen. Per Einschreiben war Königs die Forderung einer saftigen Nachzahlung zugestellt worden. So geärgert hatte sich die Chefin schon lange nicht mehr. Gerda König seufzte und wischte diese unerfreulichen Gedanken weg.
Heute musste es bei einer Tasse Kaffee bleiben. Für das Zeitunglesen war keine Zeit, denn bereits in einer Stunde würden die ersten Kunden unten im Laden stehen. Vor besonderen Anlässen oder Feiertagen hatte der Salon ausnahmsweise auch mal am Montag geöffnet. Schließlich gab es viele Stammkunden, die ausschließlich „zum König“ gingen. Der Friseurbesuch war Vertrauenssache, ähnlich wie der Gang zum Arzt. Gleichzeitig sparte sich so manch einer den Therapeuten, denn das Team im Salon hatte immer ein offenes Ohr für die kleinen und großen Nöte der meist weiblichen Kundschaft. Selbstverständlich gehörte die Verschwiegenheit zum Berufsethos. Für ihre Kundschaft taten die Königs alles. Egal ob man nur zum Spitzenschneiden oder zum Waschen-Schneiden-Legen kam, jeder Kunde war hier König, beim König.
Gerda und Otto waren ein eingespieltes Team, seit einunddreißig Jahren waren sie verheiratet. Otto konnte sich darauf verlassen, dass er zum Frühstück seine heißgeliebten Laugenwecken vorfand, sobald er sich unter Aufbietung sämtlicher Willenskraft aus dem Bett gekämpft hatte. Seine Frau konnte so früh am Morgen noch nichts essen und so starteten die beiden auch heute mit ganz unterschiedlichem Tempo in den Tag.
Aus dem Schlafzimmer kam immer noch ein sonores Schnarchen , als Gerda schon fertig angezogen und perfekt frisiert das Bad verließ. Was Friseure können, können eben nur Friseure und das sah man Gerda König auch an. Sie war die gelebte Eleganz in der Beziehung, groß und schlank, während Otto König eher den gemütlichen Part übernahm. Wie jeden Morgen ging sie zuerst in den Salon hinunter, der im Erdgeschoss des Hauses lag und machte die Lichter an. Der Laden war etwas Besonderes. Hier gingen Familientradition und Moderne eine Beziehung ein, die zu einer unvergleichlichen Atmosphäre führten. Im vorderen Bereich, in dem sich auch die Kassen-Theke befand, wurden die Herren bedient. Das war das Reich von Otto König, der in seinem weißen Arbeitsmantel eher wie ein Arzt
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