Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
Augenblicken verstand er Erij beinahe, verstand ihn durch die Stimmungen und Haßgefühle und die Furchen, die sich auf seinem Gesicht abzuzeichnen begannen, die ihn mehrere Jahre älter aussehen ließen, als er wirklich war.
»Deine Lady«, sagte Erij schließlich, »hat Morija nicht verlassen – entgegen deiner Behauptung.«
Vanyes Kopf fuhr hoch. »Wo ist sie?«
»Das müßtest du doch wissen«, sagte Erij. »Ich glaube noch immer, daß dir bekannt ist, was sie vorhat.«
»Das ist ihre Angelegenheit.«
»Soll ich sie zurückholen lassen und verhören, oder soll ich dich noch einmal fragen?«
Vanye starrte ihn an. Plötzlich sah er Methode in dem Wahnsinn, in dem kränklichen Amüsement des anderen. Dieses neue Bild gefiel ihm nicht besser als das alte. »Ihr Anliegen betrifft Hjemur, und sie ist kein Freund Thiyes. Lassen wir es dabei bewenden.«
»Wirklich?«
»Ich sage die Wahrheit, Erij!«
»Trotzdem«, fuhr Erij fort. »Sie hat Morija nicht verlassen.
Und alle meine Versprechungen waren davon abhängig.«
»Die meinen auch«, antwortete Vanye.
Erij blickte auf ihn herab. In seinem Blick stand keine Belustigung. Urplötzlich lauerte Nhi Rijan in seinen Augen, jung und rücksichtslos und voller Boshaftigkeit. »Du kannst gehen.«
»Unternimm nichts gegen sie!« warnte ihn Vanye.
»Du kannst gehen«, wiederholte Erij.
Vanye rappelte sich auf und machte eine leichte Verbeugung und bewahrte damit das schwache Band der Höflichkeit zwischen ihnen. Vor der Tür empfingen ihn die Wächter – wie immer: Myya. Erij vertraute es keinem Nhi an, ihn aus dem Quartier zu holen und wieder zurückzubringen.
Aber seit er in den Saal getreten war, hatte sich die Wache verdoppelt: aus zwei waren vier geworden.
Plötzlich versuchte er sich in den Saal zurückzuziehen, hörte Stahl flüstern und sah Erij das Langschwert aus der Scheide ziehen. In diesem Moment des Zögerns zerrten ihn die Männer zurück und versuchten ihn festzuhalten.
Er wußte, daß er nichts zu verlieren hatte, und warf sich auf seinen Bruder, nun doch gewillt, ihm den Schädel einzuschlagen: kein Myya-Mischling sollte Lord von Ra-morij sein, das wenigstens wollte er den armen Nhi ersparen.
Doch sie überwältigten ihn, wobei sie in der Hast übereinander stolperten und etliche Möbelstücke umwarfen; und Erijs Faust, bewehrt vom Knauf des Schwertes, prallte heftig gegen seine Schläfe und ließ ihn in die Knie brechen.
Er kannte diese unteren Regionen der Festung, die tief in das Gestein gemeißelten Höhlen, die im Falle einer Belagerung die Vorräte enthielten, ein wahres Gewirr von Tunneln und Räumen mit tropf nassen Decken, im Winter oft vereist. Und diese Erscheinung machte den ganzen Ostflügel gefährlich, so daß niemand dort lebte: soweit sich die Menschen zurückerinnern konnten, wurde hier der Zusammenbruch befürchtet, obwohl die Tunnel verbarrikadiert und die Vorratsräume mit Trägern verstärkt und einige mit Erdreich angefüllt worden waren. Als Kinder hatten sie dort nicht spielen dürfen: als Kinder hatten sie in den harten Wintertagen wie auch in der Hitze des Sommers die oberen Vorratsräume des ungefährdeten Westflügels für ihre Spiele benutzt.
Nachdem er nach Ra-morij gezogen war, hatten ihn seine Brüder einmal aufgefordert, sie in die untersten Stockwerke zu begleiten: sie hatten nur eine einzige Lampe mitgenommen und waren bis zu diesem Ort aus Feuchtigkeit und Kälte und vermodernden Balken und brüchigem Mauerwerk vorgedrungen.
Hier hatten sie ihn allein gelassen, hier, von wo seine Schreie nicht zu hören waren.
An diesem Ort schlössen ihn nun die Myya ein, ohne Licht und Wasser, vor der lähmenden Kälte nur durch ein dünnes Hemd geschützt. Er wehrte sich, so betäubt er noch war, gepackt von der Angst, daß sie ihn anbinden würden, wie Kandrys es getan hatte: er entwischte ihrem Griff und versuchte zu kämpfen.
Sie schlössen die Tür hinter ihm, stürzten ihn in absolute Dunkelheit. Der Querbalken wurde lärmend vorgelegt; das Geräusch hallte dumpf nach.
Er warf sich mit voller Kraft gegen die Tür, bis er erschöpft war, bis seine Schulter geprellt schmerzte und seine Hände Reißwunden auf wiesen. Da ließ er sich endlich dagegen sinken, der einzige sichere Punkt in dieser Schwärze, der einzige Ort, der nicht aus kalter Erde oder kalten Steinen bestand. Vanye hielt den Atem an und hörte eine Zeitlang nur das langsame, ferne Tropfen von Wasser.
Dann begannen sich die Ratten wieder zu
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