Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
die Regeln der Ehre gehalten. Die beiden hatten ihrerseits im Hinterhalt gelegen, besonders nachdem seine Kinderschwester gestorben war und er in die Festung Ra-morij ziehen mußte.
Seiner Erinnerung nach war das der Zeitpunkt, da sie aufhörten, Brüder zu sein; als er in die Festung zog, war er für sie nicht mehr der arme Verwandte, sondern plötzlich der Rivale. Damals hatte er den Hintergrund dieser Wandlung nicht begriffen. Er war erst neun Jahre alt gewesen.
Erij war zwölf, Kandrys dreizehn: in diesem Alter konnten Jungen überlegt und unüberlegt am grausamsten handeln.
»Wir waren Kinder«, sagte Vanye. »Damals war alles anders.«
»Als du Kandrys umbrachtest«, sagte Erij, »war das eine ziemlich eindeutige Tat.«
»Ich wollte ihn nicht umbringen«, protestierte Vanye. »Vater behauptete, Kandrys hätte mich im Kampf nicht töten wollen, aber das wußte ich nicht. Erij, er drang auf mich ein, du hast es selbst gesehen! Und nach dir hätte ich nie gehauen.«
Erij starrte ihn mit ausdrucksloser Kälte an. »Außer daß meine Hand ihn abschirmte, nachdem er die tödliche Wunde empfangen hatte. Er lag am Boden, Bastardbruder!«
»Ich fühlte mich viel zu sehr in Bedrängnis, um nachzudenken. Ich habe falsch gehandelt. Ich bin schuldig. Ich ertrage die Strafe dafür.«
»Es ist schon richtig«, sagte Erij, »daß Kandrys dich ein bißchen zurichten wollte: er hat dich nicht gemocht, ganz und gar nicht. Es gefiel ihm nicht, daß du einen Platz unter Kriegern erhieltest: er sagte, er wolle dafür sorgen, daß du bei ihnen nichts mehr zu suchen hättest. Mir war das eigentlich egal, so oder so: aber so war es nun mal. Kandrys war mein Bruder. Hätte er sich entschlossen, dir den Hals umzudrehen, so war er immerhin Erbe der Nhi, und ich hätte das sicher in Betracht gezogen. Schade, daß wir uns ein so kleines Ziel steckten. Du warst geschickter mit der Klinge, als wir gedacht hatten, sonst hätte Kandrys dich nicht so lässig herausgefordert. Das muß ich dir lassen, Bastardbruder: du warst gut.«
Vanye griff nach dem Weinkelch und leerte ihn; es schmeckte sauer. »Eine hübsche Schar von Erben für unseren Vater, nicht wahr? Drei Möchtegern-Mörder.«
»Vater war der beste von allen«, sagte Erij. »Er brachte unsere Mutter um – davon bin ich überzeugt. Er trieb Kandrys in den Tod, indem er dich eine Zeitlang vorzog. Kein Wunder, daß er Gespenster sah.«
»Dann reinige diesen Bau von ihnen. Laß mich fortreiten. Dein Vater hat dich nicht besser behandelt als mich. Laß mich ziehen.«
»Du wiederholst deine Bitte: ich lehne sie ab. Warum versuchst du nicht zu fliehen?«
»Ich dachte, du erwartest von mir, daß ich mein Wort halte«, antwortete Vanye. »Außerdem würde ich nicht einmal bis ins Erdgeschoß von Ra-morij gelangen.«
»Vielleicht tut es dir später leid, daß du die Chance verpaßt hast.«
»Du willst mir nur angst machen. Ich kenne das Spielchen, Erij – darin warst du immer groß. Immer habe ich die Dinge geglaubt, die du mir erzählt hattest; dir traute ich mehr als Kandrys. Ich wünschte mir immer, daß in dir ein Funken Ehre steckte – etwas von dem, was Kandrys fehlte.«
»Du hast uns beide gehaßt.«
»Du tatest mir leid – Kandrys ebenfalls.«
Erij lächelte, stand auf und ging zum Fenster, wo es warm war. Vanye folgte ihm. Erij hatte noch den Weinkrug in der Hand und nahm seinen gewohnten Platz ein, während sich Vanye auf den warmen Steinen niederließ. Lange Zeit herrschte Stille zwischen ihnen, fast eine Art Frieden. Zwei weitere Portionen Wein wurden aus Erijs Kelch geleert, und sein gebräuntes Gesicht rötete sich, sein Atem .begann schwer zu gehen.
»Du trinkst zuviel«, sagte Vanye schließlich. »Gestern abend und heute – du trinkst zuviel.«
Erij hob seinen Armstumpf. »Dies – schmerzt mich an kalten Abenden. Ich trinke schon lange, um besser einzuschlafen. Ich muß wohl damit aufhören, wenn ich nicht so enden will wie Vater. Der Wein beschleunigte seinen Untergang, das weiß ich durchaus. Wenn er trank – nach Kandrys’ Tod ständig – wurde er unvernünftig. War er dann betrunken, ritt er hinaus, saß an seinem Grab und sah Gespenster. So möchte ich nicht sterben.«
Es war diese geistige Klarheit, die Erij am verrücktesten erscheinen ließ; zuweilen glaubte ihn Vanye sogar der Vernunft, des Verzeihens fähig. So konnte ein Mann nicht mit einem Feind sprechen. In solchen Augenblicken waren sie sich als Brüder näher denn je zuvor. In solchen
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