Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
Söhnen. Du enttäuschtest ihn als erster. Und entstelltest mich. Es war ihm ganz und gar nicht recht, Nhi einem Krüppel zu hinterlassen.«
Vanye ertrug es nicht länger. Er drehte sich auf den Knien herum und machte die Verbeugung, die er noch nie einem Bruder erwiesen hatte, die Respektsbezeigung vor einem Klanführer, die Stirn auf die Steine gedrückt. Dann richtete er sich auf und blickte verzweifelt flehend in das Gesicht des Bruders. »Laß mich fortreiten, Bruder. Ich habe Pflichten gegenüber Morgaine. Es ging ihr nicht gut, ich muß meinen Eid halten. Wenn ich das überlebe, kehre ich zurück – dann regeln wir alles andere.«
Erij blickte ihn nur an. Vielleicht war es das, was er im Sinn hatte – er wollte ihm seinen Stolz rauben. Erij lächelte leicht.
»Zurück in dein Zimmer«, sagte er.
Vanye fluchte zornig und niedergeschlagen. Doch er stand auf und gehorchte; er kehrte zurück in die bedrückende Atmosphäre von Kandrys’ Raum, zurück zu Staub und Gespenstern und Schmutz, gezwungen, in Kandrys’ Bett zu schlafen und Kandrys’ Kleidung zu tragen und einsam auf und ab zu schreiten.
In dieser Nacht regnete es. Wasser plätscherte durch einen Spalt in den verfaulenden und unbemalten Fensterläden. Donner krachte alarmierend, wie stets auf dieser Seite des Gebirges. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er über das deutlich sichtbare Relief der Berge, durchzuckt vom Schein der Blitze, und fragte sich, wie es Morgaine jetzt wohl erging, ob sie noch lebte oder ihrer Wunde erlegen war, ob sie wohl Unterschlupf gefunden hatte. Nach einiger Zeit wurde der Regen zu Schnee, aber der Donner rollte weiter.
Am Morgen lag eine dünne Schneeschicht über der Welt, Ra-morijs alte Mauern waren sauber. Aber bald setzte der Verkehr über den Hof ein und ließ den Boden braun werden. Schnee hielt sich nicht lange in Morija, nur in den Alis Kaje oder auf dem Pro-eth-Gipfel.
Wesen, die einer Spur folgten, hatten es bei Schnee leichter, überlegte er, und der Gedanke steigerte sein Unbehagen noch mehr.
Wie schon tags zuvor ließ man ihn den ganzen Tag in Ruhe; nicht einmal Nahrung wurde ihm gebracht. Gegen Abend kam die erwartete Aufforderung; wieder mußte er sich mit Erij zu Tisch setzen, er auf einer Seite, Erij auf der anderen.
An diesem Abend lag ein Chya-Langbogen auf dem Tisch zwischen Geschirr und Wein.
»Erwartest du, daß ich mich erkundige, was das soll?« sagte Vanye schließlich.
»Gestern nacht versuchten Chya unsere Grenze zu überschreiten. Deine Prophezeiung war richtig: Morgaine hat ungewöhnliche Verfolger.«
»Ich bin sicher«, sagte Vanye, »daß sie sie nicht zu sich gerufen hat.«
»Wir haben fünf getötet«, meldete Erij stolz.
»Ich lernte in Ra-leth einen Mann kennen«, sagte Vanye mit zusammengepreßten Lippen, während er sich Wein einschenkte, »zu dessen Abbild du dich entwickelt hast, legitimer Bruder, Erbe des Rijan. Dieser Mann hält Zimmer wie du, und Gäste wie du und die Ehre wie du.«
Erij schien amüsiert zu sein, aber die Decke seiner Beherrschung war dünn. »Bastardbruder, du hast heute abend einen beißenden Humor. Meine Gastfreundschaft scheint dich ausgesprochen selbstsicher zu machen.«
»Das Töten eines Bruders wird sich für dich nicht mehr auszahlen als für mich«, antwortete Vanye und versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, ruhiger, als er sich innerlich fühlte.
»Selbst wenn du deine Burg mit Myya anfüllst, wie mit deinen vorzüglichen Dienern draußen vor der Tür – so herrschst du doch hier über Nhi. Das solltest du dir vor Augen führen. Wenn du mir den Hals durchschneidest, wird dir das von vielen Nhi nicht vergessen werden.«
»Meinst du?« erwiderte Erij und lehnte sich zurück. »Du hast keine direkte Verwandtschaft bei den Nhi, Bastardbruder: nur mich. Ich glaube außerdem nicht, daß die Chya etwas tun könnten – wenn es ihnen wirklich darauf ankäme, was ich doch sehr bezweifle. Und sie hat dich sehr schnell verlassen. Ich wünschte, ich wüßte, was die Hexe an sich hat, das einen Mann wie dich zu einem getreuen Diener macht, Vanye, den Egoisten, Vanye, den Feigling. Und nicht mal ein gemeinsames Lager. Das ist wahrlich großes Zauberwerk, daß du jemandem überhaupt so treu dienst. Aus dem Hinterhalt zu arbeiten ist dir immer viel leichter gefallen.«
Manches von dem, was Erij sagte, entsprach durchaus der Wahrheit: der jüngere Bruder gegen die älteren, der Bastard gegen die Erbsöhne, da hatte er sich nicht immer an
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