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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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auf ein Tablett, dazu zwei umgedrehte Tassen. Immer zwei umgedrehte Tassen, obwohl sie auf niemanden wartet, der den Morgenkaffee mit ihr trinkt. Muntaha schläft um diese Zeit noch. Sie geht zurück in ihr Zimmer, zieht ihr Kleid an, ertastet sich ihren Weg zu der Bank auf dem Balkon, wo sie das Licht wahrnimmt. Früher hat sie es geliebt, den Tag hinter den hohen Bergen aufsteigen zu sehen. Noch immer setzt sie sich so hin, dass sie in diese Richtung blickt. Sie gießt sich eine halbe Tasse ein und trinkt, dann füllt sie nach. Sie trinkt den Kaffee bis zum Satz. Sie bringt das Tablett, die Kanne und die beiden Tassen in die Küche zurück, spült sie und stellt sie wieder an ihren Platz. Sie füllt Wasser in einen Eimer, kehrt zum Balkon zurück, um die Blumen zu gießen, ehe die Sonne an Höhe gewinnt. Von dieser täglichen Routine wird sie erst dann abweichen, wenn das alles sie ermüdet, wenn sie am nächsten Tag nicht wieder aufstehen will.
    Ibrahîm al-Halabi ist immer der erste, der vorbeikommt. Er steht früh auf und verlässt das Haus mit dem ersten Licht der Morgendämmerung. Er verlangsamt seinen Schritt, wenn er sich ihrem Balkon nähert. Kâmleh erwidert seinen Gruß, vermeidet es aber, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen. Er hat immer so viel zu sagen. Er steht früh auf, um sich auf dem Dorfplatz neben die Tür der Buchhandlung zu stellen und in aller Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken, die der fliegende Kaffeeverkäufer ihm einschenkt. Er sieht zu, wie der Ort erwacht, er beobachtet die Leute, die den Laden betreten und die Morgenzeitung kaufen oder Lottoscheine ausfüllen, andere, die in den Regierungspalast gehen, dessen Türen sich zur gegenüberliegenden Straßenseite hin öffnen. Wenn alle, die eine Arbeit haben, zu ihrem Arbeitsplatz gegangen sind, endet der Tag für Ibrahîm al-Halabi. Etwa gegen neun Uhr morgens macht er kehrt, dann verlässt er sein Haus bis zum Morgengrauen des nächsten Tages nicht mehr. Wenn er Kâmleh auf seinem Hinweg in aller Frühe einen Gruß zugeworfen hat, muss er, wenn er schwankend nach Hause zurückgeht, nichts mehr sagen. Er begnügt sich damit, einen Blick zum Balkon zu werfen und sich zu vergewissern, dass Kâmleh noch an ihrem Platz ist, ihre Blumen gießt und Kaffee trinkt. Dann ist er seinerseits erleichtert, dass das Leben seinen normalen Gang geht und dass er einen weiteren Tag gewonnen hat, einen Tag, der dem vergangenen gleicht. Einen Tag, dessen Wert nur zu schätzen weiß, wer wie er bei guter Gesundheit ist, aber kurz davor steht, sich aus dem Leben zu verabschieden.
    Kurze Zeit später wird die Lehrerin mit ihren klappernden Absätzen folgen. Einmal hatte sie Kâmleh gegrüßt, doch die hatte den Gruß nicht erwidert, vielleicht vorsätzlich oder weil sie ihn nicht gehört hat, jedenfalls geht die Lehrerin seitdem grußlos vorbei. Nicht einmal einen Blick wirft sie hinauf, aber das ist Kâmleh gerade recht.
    Wie jeden Tag taucht auch Muntaha mit dem ersten Sonnenlicht auf. Sie dreht ihren Hausschlüssel zweimal um und nimmt ihn mit. Sie wagt es nicht mehr, die Tür offen stehen zu lassen; früher hat sie sogar noch einen Stuhl davorgestellt, damit der Wind sie nicht zuschlägt. Seit sie auf der Welt ist, stand die Tür ihres Hauses immer offen. Heute fürchtet sie sich vor Einbrechern. Täglich erzählen ihr die Leute von neuen Schandtaten. Professionelle Diebe dringen, während die Leute schlafen, in die Häuser ein und schleichen sich in die Schlafzimmer, stehlen den Schmuck aus der Schublade, direkt über dem Kopf eines neben seiner Frau schlummernden Mannes. Bis heute ist noch niemand bei einem solchen Coup aufgewacht. Bestimmt versprühen sie ein Betäubungsmittel, weshalb die Bestohlenen am nächsten Morgen alle wie gerädert aufwachen.
    Muntaha ist überzeugt davon, dass mittlerweile mehr Fremde im Ort wohnen als Einheimische.
    – Wir kennen niemanden mehr, woher kommen die alle?, fragt sie.
    Wenn sie Kâmlehs Balkon ansteuert, hat Muntaha meistens ein Tablett voller Linsen bei sich, aus denen sie das Stroh und die kleinen Steinchen herausliest; oder eine Schüssel mit Zucchini, die sie geschickt aushöhlt. Wenn das Mittagessen einfacher vorzubereiten ist, bringt sie nur eine Handarbeit mit. Ein dunkelblauer Pullover, den sie für sich selbst strickt.
    Muntaha hat niemanden mehr, für den sie einen Pullover oder einen Schal stricken könnte. Ihr Bruder hat geheiratet und ist nach Australien ausgewandert. Seine Kinder kennt sie nicht,

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