Morgen des Zorns
aber an Feiertagen schicken sie ihr Grüße und Postkarten – und Geld, das sie sich von ihren bescheidenen Gehältern absparen, die man ihnen für ihre zermürbende Arbeit in der Fabrik zahlt. Sie liebt sie. Sie hat niemand anderen, den sie lieben könnte, aber sie kennt sie nur von Fotos. Nach dem Tod ihrer Mutter hat der Stumme es nicht mehr lange ausgehalten. Er ist wie gewöhnlich eines Sonntagmorgens zum Fluss gegangen, um Aale zu fischen, und nicht mehr zurückgekommen. Überall haben sie nach ihm gesucht, aber er hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Vielleicht hat ihn der Fluss mit sich gerissen. Muntaha hat niemanden mehr, für den sie etwas stricken könnte, also strickt sie für sich selbst, sie strickt, aber sie zieht die Sachen nicht an. Auf Nachfrage entgegnet sie, sie mache einen Pullover für den kleinen Sohn ihrer Nachbarn fertig, der nächstes Jahr in die Schule kommt. So als gehöre es sich nicht, wenn eine Frau etwas für sich selbst strickt!
Heute aber wird sie mit leeren Händen kommen. Sie wird ihr bestes Kleid anziehen. Wahrscheinlich das dunkelbraune. Sie werden nebeneinandersitzen. Wenn Muntaha etwas sagt, wird Kâmleh ihr antworten. Kurz und knapp.
Der Tag wird heiß werden, immer mehr Stimmen werden zu hören sein. Aber Kâmleh wird alle zum Schweigen bringen, damit Elias Schlaf nicht gestört wird. Sie kennt jede Stimme in der Nachbarschaft, sie weist jeden zurecht, der zu laut spricht.
Etwa um zehn Uhr tritt er auf den Balkon. Er trägt ein dünnes weißes Jackett, setzt sich neben sie, schmiegt sich an sie. Er küsst sie auf die Stirn und legt den Arm um ihre Schultern, sie aber schiebt ihn von sich. Er insistiert, und im Gegenzug wehrt sie sich noch mehr. Sie mag diese gefühlsbetonten Gesten nicht. Sie kann sie nicht ertragen. Er öffnet sein Notizbuch, das er stets bei sich trägt, notiert etwas und legt es neben sich auf die Bank.
Zwei Jungen stecken ihre Köpfe zwischen den Balkonpflanzen hindurch, um die Szene zu beobachten. Sie sehen aus, als spähten sie durch den Spalt eines Theatervorhangs. Sie haben geschickt die Mauer erklommen, die das Grundstück von der Hauptstraße trennt und an Kâmlehs Balkon grenzt. Ihre Augen sprühen vor Neugier. Sie stellen sich auf die Zehenspitzen, um nichts zu verpassen. Neuigkeiten machen im »Banden«-Viertel noch immer die Runde von Tür zu Tür, genau wie früher. Nach den Neuigkeiten über den Krieg verbreiten sich nun auch wieder Neuigkeiten über die Menschen. Zwischen den Bewohnern des Viertels gelangen sie von Mund zu Ohr, meiden aber die Fremden, vor denen Muntaha sich fürchtet, meiden sie in der Befürchtung, dass sie welche von ihnen werden könnten. Die Neuigkeit, die seit gestern Abend die Runde macht und die die Kinder zusammen mit den bissigen Bemerkungen ihrer Eltern vernommen haben, ist, dass Kâmlehs Sohn, der Sohn von Jûssef al-Kfûri, getötet bei dem Vorfall von Burdsch al-Hawa, heute nach Amerika zurückkehren wird. Und dass seine Mutter ihn von da an nie wieder zu Gesicht bekommt.
Heute ist Streik in der Schule, die Schüler werden nicht zum Unterricht gehen. Unverhofft freie Schultage haben eine ganz besondere Qualität. Als sie ihre Eltern über die Abreise von Kâmlehs Sohn haben sprechen hören, haben die Kinder sich gesagt: »Morgen ist Streik, lasst uns dieses Schauspiel angucken gehen.« Die beiden Buben stecken die Köpfe zwischen den Pflanzen hindurch und warten auf den Moment des Abschieds. Niemand weiß, wer in Umlauf gebracht hat, dass Kâmleh ihren heute abreisenden Sohn danach nie mehr wiedersehen wird. Die beiden Jungen haben sich beeilt, um den letzten Augenblick der Trennung nicht zu verpassen. Die Vorstellung, dass Kâmleh ihren Sohn nie wiedersehen wird, hat sie hergelockt. Sie wollen wissen, wie ein Abschied aussieht, der endgültig ist.
Er wird nie wieder in den Libanon zurückkehren, und sie wird in naher Zukunft sterben.
Andere Kinder, deren Lehrer ebenfalls streiken, schließen sich den beiden Schaulustigen an, und nach kurzer Zeit umringt eine Gruppe von Schülern der Amtlichen Ersten Oberschule für Jungen Kâmlehs Balkon von allen Seiten. Ihnen gesellen sich noch ein paar andere Kameraden hinzu, die neuerdings neben ihnen die Schulbank drücken: die Kinder der Fremden, die sich erst vor kurzem im »Banden«-Viertel niedergelassen haben. Muntaha versucht sie zu vertreiben, aber es gelingt ihr nicht. Sie weichen zwar ein Stück zurück, haben es sich aber in den Kopf gesetzt zu
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