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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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begeistert zugestimmt.
    Als ich fast an der Reihe war und nur noch die dicke Frau vor mir stand, ließ ich den Stutzer vor. Der Soldat hinter dem Schreibtisch forderte keinen Ausweis von der Dicken. Sie nannte ihren Namen, und er fand sie auf der Liste. Er bat sie zu unterschreiben, doch da sie nicht schreiben konnte, tauchte sie ihren Finger in ein Tintenfass und drückte ihren Daumen auf das Papier. Dann überreichte er ihr einen Scheck. Auch der Stutzer unterzeichnete mit Fingerabdruck. Weil er den ihm zugeteilten Betrag als zu niedrig empfand, ließ er eine Tirade von Beschimpfungen los. Als dann ich den Scheck aus der Hand des Soldaten entgegennahm, fürchtete ich mich noch immer vor den Blicken der Frau meines Onkels. Aber ich brauchte das Geld, denn seit ich erfahren hatte, dass auch wir eine Entschädigung erhalten würden, hatte ich mit der Summe gerechnet und sie schon im Voraus ausgegeben.
    Ich entkam ihr nicht. Ich traf sie, als ich aus dem Büro trat. Sie stand dort und wartete. Wahrscheinlich auf uns, auf mich und meinen Bruder. Ich beachtete sie nicht, aber ich hörte sie laut sagen:
    – Hoffentlich kaufst du wenigstens Medikamente von dem Geld!

XXII
    Mit dem ersten Morgenlicht wird Kâmleh sich von ihrem Lager erheben. Jeden Tag wird es ihr ein bisschen schwerer fallen.
    Sobald sie die Decke von sich streift, wird sie die Kälte spüren. Der Fluss ist nah, und die Sonne lässt noch lange auf sich warten.
    Im Dunkel ihres Lebens wird sie von jetzt an die immer gleichen Verrichtungen wiederholen.
    Sie wird an dem Tag sterben, an dem sie von ihrer täglichen Routine abweicht. Sie ist davon überzeugt, dass sie im Schlaf sterben wird.
    Jeden Tag stellt sie sich bis ins Detail vor, was geschehen wird:
    Sie wird eines Nachts kerngesund einschlafen und am nächsten Morgen nicht wieder aufwachen. Gegen Mittag werden die Nachbarn bemerken, dass sie nicht auf den Balkon getreten ist und dass ihre Tür und ihre Fenster noch immer verschlossen sind. Sie werden vorsichtig an ihre Tür klopfen und miteinander tuscheln. Sie wird es nicht hören. Immer lauter werden sie rufen, doch sie wird es nicht hören. Sie werden gegen ihr Schlafzimmerfenster hämmern und sie rufen, doch sie wird es nicht hören. Alle werden sie kommen. Sie werden nach ihrer Freundin Muntaha fragen, werden sie von zu Hause holen, und sobald Muntaha ihre Stimmen vernimmt, wird sie wissen, dass Kâmleh gestorben ist. Kâmleh hat sich auf diesen Tag vorbereitet, an dem sie sie rufen werden und sie nicht antwortet, sie an die Tür klopfen und sie nicht reagiert. Sie hat Muntaha gezeigt, wie die Küchentür geöffnet werden kann, ohne sie dabei aufzubrechen. Sie wird ihre Hand durch das rückwärtige Fenster stecken und an der Schnur ziehen, die am Türschloss befestigt ist. Sie werden flüsternd das Schlafzimmer betreten und sie finden. Nur Muntaha wird bei ihrem Anblick einen schmerzerfüllten Schrei ausstoßen. »Weine nicht über mich, aber lass auch nicht zu, dass die Nachbarn das Haus plündern. Verschließ die Armreifen und die goldene Kette und Jûssefs Sachen«, hatte sie zu ihr gesagt. Jûssef, das war ihr Mann gewesen.
    Aber heute wird sie nichts anders machen als sonst, gerade heute nicht.
    Sie ist zufrieden eingeschlafen, weil sie für Elia den »Reiseproviant« vorbereitet und nichts vergessen hat. Eine Tasche voller Lebensmittel, ähnlich der, die sie ihm bei seiner ersten Reise mit auf den Weg gegeben hat, als sie mit ihm in den Wartesaal ging und keiner sie zurückhalten konnte.
    Heute wird sie für das Überleben kämpfen. Sie wird die schwache Küchenlampe andrehen, obwohl sie die Helligkeit schon seit langem nicht mehr wahrnimmt. Ohne sie einzuschalten, beginnt sie keinen Tag. Noch im Nachthemd setzt sie die Kaffeekanne auf die kleine Gasflamme, vorne rechts. Sie wartet im Stehen darauf, dass sie das Wasser kochen hört, dann gibt sie zweieinhalb kleine Löffel Pulver hinein und hebt die Kanne vom Feuer, damit der Kaffee nicht überkocht. Sie kann mittlerweile sogar hören, wenn er kurz davor ist überzukochen. Mit der Zeit hat sie gelernt, Geräusche wahrzunehmen, die sie früher nicht gehört hat. Den Flügelschlag der Schwalben im Frühling. Die Toilettenspülung im Hause der Familie Âssi. Sie nimmt die Kanne vom Feuer, damit sich der Kaffee setzt. Sie dreht die Gasflasche zu. Nach jedem Gebrauch tut sie das, und manchmal steht sie sogar nachts auf, um sich zu vergewissern, dass sie sie zugedreht hat. Sie stellt die Kanne

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