Morgen des Zorns
begann mit »Seit dem frühen Morgen …«. Das erweckte den Anschein, als seien wir ganz versessen darauf gewesen, das Geld in Empfang zu nehmen. Und außerdem, woher wollten sie eigentlich wissen, dass wir schon am frühen Morgen gekommen waren? Die Journalisten waren doch erst kurz nach der Kommission eingetroffen. Der Artikel beschrieb, wie die Familien der Opfer, die bei den Ereignissen der Jahre 1957 und 1958 ums Leben gekommen waren, sich dort vor dem Büro des militärischen Geheimdienstes im Norden Libanons versammelt hatten, und endete mit dem Satz: »Diese einfachen Bürger warteten darauf, das Büro der Kommission zu betreten, wo die Entschädigungen für die blutigen Ereignisse ausgezahlt wurden …« Wie konnte der Autor des Artikels sich erdreisten zu schreiben, wir seien einfache Bürger?
Ghâlib al-Samaani saß auf einem niedrigen Korbstuhl vor dem Laden seines Cousins und las den Artikel laut vor. Er hörte sich gerne selbst lesen, und seine Stammkunden lauschten gespannt. Als der Zeitungsverkäufer bei ihnen vorbeigekommen war, hatte der Ladenbesitzer seine Schublade geöffnet und ihm eine Zeitung abgekauft, die den ganzen Tag über von Hand zu Hand wanderte. Als Ghâlib zu dem Satz »Diese einfachen Bürger« kam, hielt er im Lesen inne und deutete mit dem Mittelfinger auf den Artikel, genau dorthin, wo der besagte Satz stand, und höhnte immer wieder:
– Einfach? Wir sind einfache Bürger? Einfache Bürger, du Sohn einer guten Frau?
Wir im Unteren Viertel wurden nicht gerne beleidigt. Wir würden dem Zeitungsverkäufer, wenn er am nächsten Tag wieder vorbeikäme, ganz unmissverständlich unsere Meinung sagen!
Nach dem Oberhaupt der Râmi-Familie trudelten die Notabeln des Ortes in der Kaserne ein. Sie gingen an uns vorbei, schauten uns an, warfen hier und da einen Gruß hin und betraten das Gebäude. Auch der Bürgermeister des Ortes erschien. Als das Oberhaupt unserer Familie an uns vorbeikam, konnten wir sehen, dass sein rechtes Auge rot angeschwollen war. Vielleicht von den Nachwirkungen eines Gerstenkorns. Er winkte uns zu. Eine Frau am Ende der Schlange stieß einen Freudentriller für ihn aus, aber keine andere fiel in das Getriller ein. Wahrscheinlich hatte sie der Dicken von vorhin Paroli bieten wollen. Er wurde beklatscht. Wir würden in dem kleinen Gebäude die Schecks in Empfang nehmen, während sie, die hohen Tiere, ihre Sitzung in dem großen Gebäude abhielten. Wir im Büro des militärischen Geheimdienstes und sie im Büro des militärischen Oberbefehlshabers für die Nordregion. Die Zeitung veröffentlichte zwei Fotos, eins von der dicken Frau, die gerade trillerte, ich lächelnd hinter ihr, während der Stutzer mir Beleidigungen ins Ohr tuschelte; und ein weiteres von der Versammlung der Honoratioren und der Kommission. Sie saßen im Kreis um einen Schreibtisch, dahinter ein hoher Offizier mit dunkler Brille. Alle lächelten, und einer von ihnen, das Oberhaupt der Râmi-Familie, führte gerade eine Tasse Kaffee zum Mund.
Wir rückten in der Schlange immer weiter vor, bis wir nahe an dem Gebäude waren. Durch die geöffnete Tür konnten wir die im Büro des Befehlshabers für die Region versammelten Männer laut lachen sehen. Wahrscheinlich wechselten sie freundliche Worte oder erzählten sich Witze.
Einer, der von Anfang bis Ende bei dem Treffen dabei gewesen war, berichtete uns später die Einzelheiten. Wie sie eingetreten waren, wie sie sich begrüßt und umarmt hatten. Der Führer der Râmi-Familie habe gesagt, er leide unter starkem Schnupfen und fürchte, die anderen anzustecken. Deshalb habe er davon Abstand genommen, die anderen zu umarmen, und sich mit einem Händedruck begnügt. Dann habe jemand eine Flasche Champagner geholt, und zwei Männer hätten darin gewetteifert, sie zu öffnen, und infolge ihrer Begeisterung sei der Korken losgeschossen und habe den Direktor der Abteilung des militärischen Geheimdienstes für die Nordregion am Ohr getroffen, gerade als er sich zur Seite gedreht hatte, um mit dem Rechtsanwalt zu plaudern. Als die Flasche überschäumte, hätten sie in aller Eile ihre Gläser gefüllt und sich zugeprostet. Zuerst hätten sie auf das Wohl des Libanon getrunken. Alle seien sie aufgestanden, und Henry Bek habe einen Toast ausgesprochen. Dann hätten sie auf den neuen Republikpräsidenten angestoßen, den ehemaligen Militärführer. Unser Familienoberhaupt habe vorgeschlagen, sie sollten auch auf das Wohl von Barka trinken, und alle hätten
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