Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
zunächst ausführlich die verschiedenen technischen Vorgehensweisen bei der Spurensicherung. Dann identifizierten und beschrieben sie die Beweise und interpretierten Indizien. Sie, die im Zeugenstand Erfahrenen, gingen mit den Provokationen des Anwalts gelassen um.
Zwei Themenschwerpunkte kristallisierten sich heraus. Der eine betraf die Frage nach dem Warum und würde nur von Thea beantwortet werden können. Der Psychiater gab sich alle Mühe, für Laien nachvollziehbar zu erläutern, was in den Köpfen von Menschen vorgeht, die an komplexen psychischen Störungen leiden, doch im Saal herrschte eher ratlose Fassungslosigkeit statt Verständnis.
Die technischen Forensiker wiederum sollten unwiderlegbare Beweise dafür erbringen, dass Thea meine Mutter getötet hatte. Dazu galt es, die für die Rekapitulation des Tathergangs entscheidende Frage zu beantworten: Auf welchem Weg und wann war Thea in unser Haus gekommen?
Da Thea sich nicht äußerte, mussten die Ermittler zuerst ihre Fantasie spielen lassen und dann die Möglichkeiten abwägen, verwerfen oder näher untersuchen.
Man nahm meine Angaben als Basis, wonach meine Mutter Fenster und Türen ab Einbruch der Dunkelheit verriegelte. Zu diesem Zeitpunkt musste Thea also bereits im Haus gewesen sein. Versteckt haben konnte sie sich nur im Kleiderschrank im Schlafzimmer. Unter dem Bett hätte lediglich eine sehr schlanke Person Platz gefunden; Thea aber war eher stämmig. Neben dem Bett liegend, wäre für einen Eindringling das Risiko, entdeckt zu werden, zu groß gewesen. Andere Schlupfwinkel gab es nicht, also stand fest, dass Thea wahrscheinlich mindestens eine Stunde zwischen Vaters alten Anzügen gestanden oder gekauert hatte.
Als meine Mutter das Wohnzimmer verlassen hatte, um sich in der Küche Tee zuzubereiten, musste Thea aus der Schlafzimmertüre geschlüpft und in die gegenüberliegende Küche gegangen sein, wo sie meine Mutter erstach.
Ich hatte keinen Laut gehört, meine Mutter war demnach vermutlich sofort tot gewesen. Zudem war die Wohnzimmertüre möglicherweise angelehnt oder gar geschlossen gewesen, so dass Geräusche aus der Küche nicht als Alarmsignale bei mir angekommen waren.
Wie auch immer: Thea musste das Messer bereits in Besitz genommen haben, denn der Messerblock, aus dem es stammte, hatte am Fenster auf der Arbeitsplatte gestanden. Sie wäre an meiner korpulenten Mutter nicht vorbeigekommen.
Von der Küche war Thea vermutlich durch den Flur ins Wohnzimmer geschlichen, wo sie mir, der ahnungslos auf dem Sofa lag, einen »Kuhfuß« auf den Kopf schlug. Dieses gebogene Stahlwerkzeug diente dazu, Nägel aus Holz zu hebeln, und wurde von Landwirten beim Zaunbau oder von Zimmerleuten eingesetzt. Das schwere Eisen hatte im Schuppen gelegen. Thea hatte sich also eingehend umgesehen und ihre Tat gezielt geplant.
Nachdem sie mich bewusstlos geschlagen hatte, musste sie mich in die Küche gezerrt und neben die Leiche meiner Mutter gelegt haben. Dort war ich irgendwann zu mir gekommen und hatte in die leblosen Augen meiner Mutter geblickt.
In diesem Moment hatte mein Albtraum begonnen.
Nach den Verhandlungstagen fuhr ich zu Zecke, zog mich um, schnürte meine Laufschuhe und rannte durch den Englischen Garten. Abends kochten wir gemeinsam, redeten über Zeckes neue Arbeit in einer Betreuungsstätte für drogensüchtige Jugendliche und tranken Bier. Nachts lag ich wach oder träumte von meiner Mutter, von Jessica und von Thea.
Das Urteil, das gefällt wurde, ohne dass die Angeklagte ein Wort gesagt hatte, stellte für keinen der Anwesenden eine Überraschung dar.
Thea konnte der Mord an meiner Mutter zweifelsfrei anhand von Indizien nachgewiesen werden, »heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen«, wie der Richter ausführte. Darin bestand der Unterschied zwischen Totschlag und Mord, wie ich bereits nach dem ersten Verhandlungstage recherchiert hatte.
Als ich damals abends in der juristischen Abteilung der Universitäts-Bibliothek im Strafgesetzbuch geblättert hatte, war mir klar geworden, dass in fast jedem Krimi mit falschen Begriffen jongliert wird. Mehr noch, die Drehbuchschreiber vermitteln den Zuschauern ein Rechtsverständnis, das mit der Realität nicht viel zu tun hat.
Während im »Tatort« grundsätzlich von Mord die Rede ist, entscheidet tatsächlich der Staatsanwalt nach Würdigung aller Umstände darüber, ob ein Täter als Mörder oder wegen Totschlags angeklagt wird. Erst das Gericht bewertet und
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