Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
gewichtet die einzelnen Tatbestandsmerkmale, zu denen Vorsatz, Habgier, Lust am Töten, Heimtücke oder auch Grausamkeit gehören. Lautet der Schuldspruch auf Totschlag, bedeutet das eine Haftstrafe von mindestens fünf Jahren. Bei Mord wird ein lebenslanger Gefängnisaufenthalt daraus. Stellt der Richter eine »besondere Schwere der Tat« fest, wird damit eine vorzeitige Entlassung augeschlossen. Wird zudem Sicherungsverwahrung angeordnet, ist dem Mörder ein Leben in Freiheit für immer verwehrt.
Mit diesem Wissen war ich bereits Tage vor dem Richterspruch sicher, dass Thea wegen Mordes verurteilt werden würde. Ob in einem oder in zwei Fällen, war für mich, den juristischen Laien, nicht abzuschätzen. Jedoch konnte ich den Gesprächen zwischen den Ermittlern entnehmen, dass das Verbrechen an Jessica möglicherweise aus Mangel an Beweisen ungesühnt bleiben würde.
Ich versuchte, nicht daran zu denken.
Die Frage, die sich jeder von uns stellte, war die nach der Schuldfähigkeit. War Thea Herrin ihrer selbst? Hatte sie die Kontrolle über sich? Verstand sie, was sie getan hatte? Dass sie krank war, wussten wir. Doch wie krank?
Aufgrund der Aussage des Gutachters, der Thea eine schwere schizophrene Psychose attestierte, und der Berichte ihrer Ärzte wurde sie für schuldunfähig erklärt. Das Gericht verurteilte sie zu unbefristetem Maßregelvollzug und ordnete die Einweisung in eine »geeignete psychiatrische Einrichtung« an.
Während der Richter die Urteilsbegründung vorlas, starrte Thea vor sich auf den Tisch. Ich beobachtete, wie ihre Augen der Maserung des Holzes folgten. Sie schien unbeteiligt, doch ich sah, wie ihr Kiefer mahlte und die Adern an ihrem Hals hervortraten.
Ich war nervös, fast verstört, und erleichtert zugleich. Sie würde therapiert und nicht nur weggesperrt werden. War sie wirklich schwer krank - und davon war ich mittlerweile überzeugt -, konnte ich ihr verzeihen und ihr wünschen, dass es ihr irgendwann besser gehen möge. Und ich war endlich in der Lage, ein schreckliches Kapitel meines Lebens abzuschließen, eines, das aus mir einen anderen Menschen gemacht hatte. Oder war ich einfach nur erwachsen geworden?
44. Kapitel
Zecke und ich fuhren kurz nach Ende des Prozesses zum Flughafen, studierten die Last-Minute-Angebote und stiegen in den nächsten Flieger Richtung Gran Canaria. Dort verbrachten wir eine Woche am Strand und in Bars.
Das Hotel, in dem wir uns ein Zimmer teilten, wurde mit dem Begriff »Absteige« eher geadelt als abgewertet, daher blieben wir ihm nach Möglichkeit fern. Oft schliefen wir in den Dünen und dösten tagsüber im Schatten.
Wir mieden den Kontakt zu anderen Billigtouristen, zogen uns lieber zurück, sobald die Partys richtig begannen. Wir lagen im Sand, unterhielten uns, hingen unseren Gedanken nach oder lasen. Wir aßen
enyesques
- die kanarische Version von Tapas -, kleine, runzelige Kartoffeln namens
papas arrugadas
oder Fischsuppe in billigen, einheimischen Lokalen, die wir in dunklen Seitenstraßen fanden.
Ich kam zur Ruhe.
Wieder zu Hause, stürzte ich mich in die Arbeit. Ich schrieb ein Exposé über die These, die ich in meiner Dissertation aufstellen und bestätigen oder widerlegen wollte, und legte sie Professor Heintzmann vor.
Dann bereitete ich ein Skript für die Vorlesung vor, die ich vor Studenten im ersten Semester halten sollte. Eigentlich ging es um nicht mehr und nicht weniger als die Beantwortung der Frage, wie man studierte. Meine Zuhörer kamen von der Schule und mussten darauf vorbereitet werden, dass sich ihr künftiges Lernen gravierend von dem unterscheiden würde, was sie kannten.
Die Aufgaben, die ich übertragen bekam, machten mir Spaß. Ich war frei genug, mich um meine Dissertation zu kümmern, war aber fest in den akademischen Betrieb eingebunden und erhielt damit die Stabilität, die ich brauchte.
Mein Haus war zur gemütlichen Oase geworden. Ich lud Kollegen und Kommilitonen ein, Zecke kam oft für ein paar Tage zu Besuch, brachte ein paar seiner Schützlinge oder zwei, drei Kumpels mit.
Ich genoss die Einsamkeit ebenso wie die fröhliche Geselligkeit, welche das einst so stille, dunkle Haus jetzt immer öfter erfüllte.
Wir mauerten eine Feuerstelle, besorgten einen stabilen Dreifuß mit Kette und Topf. Darin kochten wir Bohneneintopf oder Gulasch, an dem wir mehrere Tage aßen. Ins Feuer warfen wir Kartoffeln und in Alufolie gewickelte Steaks. Meist spielte einer der Jugendlichen
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