Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
mich angesehen hatte, als wir vor dem Brunnen standen, in dem Jessica gestorben war. Unergründlich. Voller Tiefe und doch ausdruckslos.
Vor diesem Blick hatte ich Angst.
Ich wich zurück und prallte gegen einen Körper. Hinter mir hatten die Kriminalbeamten den Raum betreten, die erst gegen mich und dann gegen Thea ermittelt hatten. Der Ältere nickte mir kurz zu, der Jüngere lächelte.
Ich setzte mich auf die Bank in der ersten Reihe. Sie war mit »Zeugen« beschriftet. Dahinter waren einige Plätze für die Journalisten reserviert. Der Zuschauerbereich war noch leer, doch auf dem Gang hatten sich bereits ein paar Dutzend Menschen vor der Tür gedrängt, durch die sie später in den Saal gelassen werden würden.
Die Verhandlung begann mit einer Ansprache des Richters, eines weißhaarigen Mannes mit kurzgeschorenem Bart und großer, kräftiger Figur, der sich seiner respekteinflößenden Ausstrahlung bewusst war. Er werde keinerlei Störungen durch Zwischenrufe dulden, erklärte er mit Nachdruck. Einer Ermahnung folge für Zuschauer die sofortige Verweisung aus dem Saal, für Verfahrensbeteiligte der Ausschluss oder eine förmliche Rüge wegen Missachtung des Gerichts. Dann erteilte er dem Oberstaatsanwalt das Wort, der mit der Verlesung der Anklage begann.
Theas Blick war unverwandt auf mich gerichtet. Sie schien nicht zu blinzeln, nicht müde zu werden. Ich betrachtete das Kreuz hinter dem Kopf des Richters, schaute der Gerichtsschreiberin zu, konzentrierte mich auf die Worte des Staatsanwalts und ließ meine Gedanken schweifen.
Nichts half. Ich spürte Theas Augen auf mir, in mir.
Ich wurde zunehmend unruhig, knetete meine Hände, wippte mit den Füßen, nagte an meiner Unterlippe. Als ich gerade aufspringen und aus der Tür stürmen wollte, ordnete der Richter eine Pause an.
Ich flüchtete auf den Gang, wo die Fotografen warteten. Mehr rennend als gehend rettete ich mich auf die Toilette, schloss mich ein und ließ mich an der Tür hinuntergleiten. Ich saß auf dem Boden, die deckellose Kloschüssel direkt vor dem Gesicht. Egal. Hauptsache, ich war entkommen.
Der Prozess dauerte eine Woche. Die meiste Zeit nahmen die Zeugenaussagen in Anspruch. Tatortermittler, Kriminalbeamte und der Gerichtsmediziner wurden immer wieder in den Saal gerufen, befragt und wieder in den Warteraum geschickt. Dieser war ausschließlich durch einen Seiteneingang direkt vom Gerichtssaal aus zu erreichen, um vor allem Journalisten daran zu hindern, mit den Zeugen Kontakt aufzunehmen.
Den Psychiater, der Thea begutachtet hatte, lehnte Theas Verteidiger wortgewaltig als inkompetent ab. Der Richter wies den Antrag mit einer knappen Handbewegung ab und wandte sich, sich über den Tisch beugend, an den Anwalt.
»Keine taktischen Spielchen! Wir sind hier nicht in einer amerikanischen Fernsehserie!« Er wandte sich an den Staatsanwalt. »Das gilt für beide Parteien. Und ich gedenke nicht, diesen Hinweis zu wiederholen. Ich hoffe, ich habe mich klar und unmissverständlich ausgedrückt.«
Eine zügige Verfahrensabwicklung, das machte er von Beginn an deutlich, war ihm wichtig. So duldete er auch nicht, dass Theas Anwalt versuchte, mich wieder als Täter ins Visier zu rücken.
»Herr Klingenberg ist vollumfänglich von dem Verdacht entlastet, seine Mutter getötet zu haben«, dröhnte die Stimme des Richters durch den Saal. »Und Sie werden sich auf Ihre Mandantin konzentrieren und auf die Fakten und keine Spielchen treiben, ist das klar?«
Nach dem ersten Tag meiner Zeugenaussage war mein neuer Anzug nassgeschwitzt. Was ich weit in die Vergangenheit geschoben hatte, war plötzlich wieder präsent. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, wie ich mich fühlen, welchem Druck ich ausgesetzt sein würde.
Ich glaubte, Theas Blick in meinen Rücken eindringen zu spüren, glühend wie ein Laserstrahl. Ihr Anwalt bombardierte mich mit Thesen, unterbrach meine hilflosen Entgegnungen oder lachte höhnisch. Ich verhaspelte mich, begann zu stottern oder vergaß die meist in lange Sätze verpackten Fragen.
Die anderen Zeugen ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Ermittler, die tagelang in weißen Overalls mit Kapuzen und Handschuhen nach Hinweisen gesucht hatten, legten routiniert ihre Ergebnisse vor und antworteten konzentriert auf Fragen.
Die Leiter der beiden Einsätze - einer war für den Tatort in Kleinspornach zuständig gewesen, der andere hatte das Team geführt, das Jessicas Tod untersucht hatte - schilderten
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