Morgenrötes Krieger
dunkleren Haaren. Sie hatte einen weichen, vollen Mund und klare, direktblickende Augen wie die Farbe des Regenwassers.
Sie sagte: „Ich bin Hvethmerleyn. Es tut mir leid, daß ihr nicht den kadh, den Erstvater, antrefft, aber er ist noch immer auf dem Weingut und wird auch wahrscheinlich noch einige Tage fortbleiben.“ Sie hatte eine klare, reine Stimme, wobei sie das „hv“ ihres Namens leicht aspirierte und so eine gewisse undefinierbare Anziehung und Attraktion erhielt. „Wollt ihr nicht über Nacht bleiben? Dies ist ein besonderes Ereignis, und es wäre schön, wenn ihr uns ein wenig Gesellschaft leisten würdet. Wir haben nur sehr selten Besucher. Es würde mich freuen.“
So gingen sie dann alle zusammen in den yos unter den Bäumen und verbrachten den Abend mit Essen, Trinken und der Erzählung ihrer Geschichte, der Hvethmerleyn mit Interesse und gedämpfter Heiterkeit folgte. Han ließ einige Sachen aus, aber weder Liszendir noch Usteyin korrigierten ihn. Und als der Abend schon weit fortgeschritten war, bemerkte er, daß sich die beiden Frauen füreinander zu erwärmen begannen und zunehmend vertraulicher und intimer wurden. Wie es für Liszendir sein würde, das wußte Han in groben Zügen, aber was Hvethmerleyns Rolle anbetraf, so konnte er sie sich kaum vorstellen: das ganze Leben mehr oder weniger mit einem Manne verbracht, und dann sucht man selbst für ihn eine zweite Partnerin, bringt sie ins eigene Haus, in die eigene Familiengemeinschaft … Er versuchte, es nachzuempfinden – unmöglich.
Sie erfuhren, daß der Name der Webe Ludhen war. Ludh bedeutete „Wein“ in der Single-Sprache! Sie waren Weinbauern! Hvethmerleyn lachte ein warmes, herzliches Lachen, und Han, der inzwischen mit vielen Charakterzügen und Eigenarten der Ler vertraut war, sah für einen Moment lang, daß Hvethmerleyn nach Ler-Maßstäben äußerst warmherzig und sinnlich war. Sie war genau das, was Liszendir brauchte, zumal er schon lange den Verdacht hatte, daß Liszendir selbst in ihrem Leben etwas Bestimmtes vermißte. Sie war höchst erfreut darüber, daß Han die Bedeutung des Single-Wortes erkannt hatte, und bestand darauf, daß er und Usteyin als Erinnerung eine Flasche Wein annahmen. Dann sprachen sie noch über den Erstvater, ihren Innenverwandten, der den Namen Thriandas trug.
Hvethmerleyn hatte anscheinend den Verdacht, daß seine Erklärung, noch auf dem Weingut arbeiten zu müssen, lediglich ein Vorwand war, um für sie selbst einen passenden männlichen Außenverwandten aufzutreiben. Thoriandas, der offensichtlich einen derben Humor besaß, hatte ihr versprochen, er werde ihr einen von der schlimmsten Sorte besorgen: einen Trunkenbold, Schläger und Dieb. Usteyin schüttete sich aus vor Lachen.
Das Kind, Tavrenian, wurde früh zu Bett gebracht. Als sie danach weiterplauderten, merkte Han, daß Hvethmerleyn ebenfalls müde war und Liszendir ziemlich erschöpft aussah. So verabschiedeten sie sich kurz und ohne lange Zeremonien und brachen auf. Liszendir begleitete sie zur Tür, während Hvethmerleyn im Haus blieb, wohl spürend und wissend, daß sie noch ein paar private Worte miteinander wechseln wollten: Worte, die noch zu Liszendirs altem Leben gehörten.
Usteyin brach das Schweigen und sagte: „Liszendir Ludhen, du hast hier einen herrlichen Ort gefunden, von dem ich mir zutiefst wünschen würde, daß wir ihn zusammen teilen könnten. Aber ich wünsche dir für dein eigenes Leben all das, was wir selbst in dem unsrigen gefunden haben.“
„Ja, es ist wahr. Dies ist ein guter Platz, und ich glaube, ich werde mich an ihn gewöhnen. So will ich euch denn Adieu sagen und euch niemals vergessen. Ich habe euer Leben gesehen und ihr das meine – eine Zeitlang wanderten wir in den Schuhen des anderen. Es ist ein gutes Ende, besser als ich es mir erträumt hatte.“ Sie unterbrach sich und kaute unentschlossen auf ihrer Unterlippe. Dann umarmte sie beide kurz und spontan und lief zurück zum yos. Am Eingang verharrte sie und rief: „Viele Kinder! Und viele Jahre!“ Dann verschwand sie schnell nach drinnen.
Draußen, in der feuchten Kühle der Nacht, durchwebt von fallenden Tropfen und dem Flüstern der steten Brandung, gingen Han und Usteyin wortlos, tief in Gedanken versunken und sich dabei gelegentlich berührend, auf schmalem Pfad zum Tor, über die Steinbrücke und die naßglänzenden Straßen zurück in ihr Zimmer.
Erklärende Nachbemerkung
zu den Ler-Namen
In den meisten Texten der
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