Morgenrötes Krieger
lange Zeit Schwierigkeiten bereitete: Jeder Wortstamm hatte eine Silbe und bestand aus einem oder zwei Konsonanten plus Vokal plus Endkonsonant. Es gab etwa vierzehntausend Wortstämme – ohne die gebräuchlichen Aussprachevarianten. Zusätzlich hatte jeder Stamm mindestens vier Bedeutungen, und es gab keine Möglichkeit zu entscheiden, welche gerade benutzt wurde – alle waren vom Kontext abhängig, der einem jedoch so lange ein Rätsel blieb, wie man ihn nicht verstand. Somit ergab sich ein einsilbiges Grundvokabular von beinahe fünfundfünfzigtausend Basiswörtern. Wenn man dazu überging, zwei- oder dreisilbige Wörter zu bilden, so wuchs die Zahl möglicher Wörter ins Unermeßliche. Er fühlte, daß hinter dem Bedeutungsgebrauch eine gewisse Ordnung steckte – wie auch hinter der Beziehung aller vier untereinander und zum Stamm selbst, aber er konnte sie nicht genau faßbar machen, und seine Lehrmeister schienen sich merkwürdigerweise jeder rationalen Erklärung entziehen zu wollen. Sie meinten nur, daß er das nicht zu wissen brauchte.
Alles, was er hinsichtlich dieser verborgenen Ordnung herausbekommen konnte, war, daß Liszendirs Name, den sie auf sein Bitten hin übersetzt hatten, irgend etwas mit „Feuer“ zu tun hatte und daß hanh, was „Dauer“ bedeutete, mit dem Aspekt „Wasser“ zusammenhing. Er erzählte ihnen von seinen Vermutungen, und sie nannten ihn seitdem spöttisch mit dem Spitznamen „Wasser-Dauer“. Es gab auch Vierergruppen von Wörtern, die nicht jeweils vier einzelne Bedeutungen hatten, sondern nur eine einzige, eine Bedeutung, hinter der sich ein tiefes und damit unteilbares Geheimnis verbarg. So zum Beispiel: panh = Feuer, tanh = Erde, kanh = Luft und sanh = Wasser. Es klang ein bißchen wie Alchemie, aber Han kannte sich zu wenig damit aus, um die Sache weiter zu verfolgen.
In Ghazh’in hatte man keinen großen Bedarf an Geschriebenem, ein Grund, warum Han nur wenig Gelegenheit bekam, Single-Sprache in schriftlicher Form zu sehen. Nach einem kurzen Blick in ein Buch, das Dardenglir ihm mitgebracht hatte, wollte er damit nichts mehr zu tun haben; dem Anschein nach wurde jedes einzelne Stammwort durch ein einziges Grundzeichen dargestellt, wobei darüber oder darunter, je nachdem, ob Vokal oder Konsonant, ein diakritisches Zusatzzeichen angebracht war. Han hatte Beispiele altchinesischer Schrift gesehen – und was er da vor sich hatte, sah wie eine vereinfachte Form aus, allerdings mit dem Unterschied, daß es keine Ideogramme waren, sondern phonetisch getreue Transkriptionen.
Neben seinem Unterricht verrichtete er tausenderlei kleinere Arbeiten und Handgriffe, die für das Leben auf einem Bauernhof notwendig waren. Abgesehen von seiner inneren Unruhe über das Schicksal Liszendirs, mußte er zugeben, daß ihm dieses Leben sehr gut gefiel. Es war ungekünstelt, spontan, ohne Hast und Streß. Aber trotz all dieser Vorzüge wußte er doch sehr genau, daß er unter ihnen ein Fremder war und nicht ewig bei ihnen bleiben konnte. Schließlich und endlich vermißte er doch seine eigene Art. Und Liebe und Sexualität. Der abendliche Anblick glänzender, nackter Körper am Wasserbottich war auf die Dauer kein Ersatz.
Er wußte nicht, wie viele Tage schon verstrichen waren – mit Sicherheit eine große Anzahl. Er kam endlich an den Punkt, wo er für seine Gespräche auf Dardenglirs Übersetzungshilfen verzichten konnte. Aber noch immer hatte er von Liszendir nichts gesehen oder gehört. So teilte er ihnen mit, daß es für ihn an der Zeit sei, sie zu verlassen, auch wenn es ihm schwerfalle. Er wollte mit Dardenglir und Bazh’ingil zu einem nahegelegenen Marktflecken ziehen, um von dort aus auf seine eigene Welt zurückzukehren. Trotz ihrer früheren Ansicht, daß es besser sei, wenn er sich ein heiratsfähiges Mädchen suchen würde, waren sie doch äußerst verständnisvoll. Sie beglückwünschten ihn für seine kluge Entscheidung, da sie beiden Seiten – ihm und ihnen – zum Vorteil gereichen würde. Sie boten ihm an, den Gewinn aus dem Verkauf der Landprodukte unter sich aufzuteilen, da er ja an ihrem Ertrag arbeitsmäßig beteiligt gewesen war. Zuerst lehnte er ab, gab dann aber nach – und so bereiteten sie alles für die Abreise vor.
Ein paar Tage später beluden Han, Dardenglir und Bazh’ingil kurz nach Sonnenaufgang einen langen, schweren Wagen und verließen nach einer herzlichen Verabschiedung das Dorf Ghazh’in. Der Wagen wurde von vier Tieren gezogen, die
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