Morgenrötes Krieger
Morgenröte. Eine andere Stadt kannten sie überhaupt nicht. Han jedoch erschien sie wie ein lebendig gewordener Text aus der Vergangenheit – lange vor der Zeit der Weltraumflüge. Als sie durch die engen, staubigen Straßen wanderten, sahen sie keine anderen Waffen als Armbrüste, ähnlich jener, die er selbst trug. Das Kanalisationssystem bestand lediglich aus einer Reihe gesundheitsgefährdender Gräben und Steinrinnen, die neben den Straßen in Richtung See verliefen und von denen einige mit zerbrochenen oder noch intakten Platten abgedeckt waren – je nachdem, ob sie das Gewicht der Passanten tragen konnten oder nicht. Eine durchaus intelligente Lösung des Problems, bedachte man, daß der See alljährlich durchgespült wurde; sollte die Flut jedoch einmal ausbleiben, so würde man die Stadt aufgeben oder verlegen müssen.
Die Straßen waren weder gerade noch lang, auch schien sich hinter ihrem Verlauf keine rechte Ordnung zu verbergen. Häuser, Gasthöfe, Geschäfte, Villen hinter hohen Mauern und Elendsviertel lagen bunt gemischt durcheinander. Die Stadt machte jedoch den Eindruck eines florierenden Handelszentrums, was bei dem gewaltigen Hinterland durchaus verständlich war. Dieses bestand vor allem aus jenen nördlichen und südlichen Teilen der Talsenke stromaufwärts sowie aus einigen größeren Gebieten im westlichen Flachland rund um die Salzlager. Aber so reich und blühend sie auch sein mochte, sie war nicht die Großstadt, die Han erwartet hatte; er schätzte ihre Einwohnerzahl auf höchstens dreißigtausend – und das war vielleicht schon zu hoch gegriffen.
Liszendirs einziger Kommentar zu der Stadt während der ersten Tage in Leilas war: „Sie sind tief gesunken!“ Sie sagte es mit ernster Traurigkeit in der Stimme. Sie sahen nur wenige Ler auf den Straßen und in den Geschäften und unternahmen auch keinen Versuch, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Han hatte bemerkt, daß Liszendir keine Lust dazu verspürte, und selbst er konnte einige Unterschiede erahnen, von denen er aber nicht genau sagen konnte, worin sie im einzelnen bestanden. Er wußte nur, daß sie anders waren als Liszendir. Ihr hingegen mußte diese Verschiedenheit besonders ins Auge fallen, da sich Ler in der Regel untereinander nie fremd waren, egal, aus welcher Ecke des Universums sie auch kamen. Das erste Mal in ihrem Leben sah sie Fremde, Bürger eines anderen Landes und es verwirrte sie.
Nach langem Herumschauen und Suchen, das wie so oft in einer Sackgasse endete, fanden sie schließlich einen Gasthof, der ganz im Gegensatz zu seinem Äußeren, das mit seinen fleckig-schmutzigen Wänden und schweren Fensterläden eher an einen Kerker erinnerte, ein überraschend komfortables Inneres aufwies. „Aus Sicherheitsgründen gegen Einbrecher und anderes Gesindel!“ rief der Inhaber. Der Gasthof nannte sich „Nebel des Westens“ und war ein aus- und überladener klotziger Bau, der so aussah, als sei er im Laufe der Jahre aus verschiedenen Einzelgebäuden zusammengewachsen. Han und Liszendir mieteten ein paar von den kleinen Zimmerchen mit Balkon und Blick auf einen reizvollen Innenhof, für den sie extra zahlen mußten, und – Wunder über Wunder – mit einem holzgeheizten Bad, das wohl kein fließendes Wasser hatte, aber dafür als kostenlose Zugabe im Mietpreis inbegriffen war. Die Zimmer waren schmucklos, doch zu vorgerückter Tageszeit spielte das Abendlicht mit seinen Schatten auf den kahlen weißgetünchten Wänden ein höchst reizvolles Spiel.
Liszendir war wegen des Bades ganz aus dem Häuschen, und sogleich ließen sie durch einen Zimmerburschen Wasser in das Reservoir über dem Dach füllen und eine Ladung Feuerholz heraufbringen; Han sagte, sie solle sich ruhig Zeit lassen und das Wasser in vollen Zügen genießen, während er selbst eines der öffentlichen Bäder unterhalb der Allee aufsuchen würde. Außerdem wollte er sich ein wenig umschauen. Danach hatten sie vor, zusammen auszugehen, um irgend etwas Schmackhaftes in den leeren Bauch zu bekommen.
Als er nach einiger Zeit zurückkehrte, schlummerte Liszendir fest und mit einem frischen Hemd bekleidet auf dem schmalen Bett. Ihr Gesicht war rosig und sauber. Die einzige Lichtquelle im Zimmer war eine Kerze, die neben dem Fenster stand. Draußen war es ruhig. Man ging in Leilas zeitig zu Bett, und wenn man zu einem Festessen eingeladen worden war, so begann man es schon am späten Nachmittag. Als er eintrat, schlug sie die Augen auf und war auf der Stelle
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