Morgenrötes Krieger
ruderten oder steuerten, verbrachten Han und Liszendir die Tage damit, gegen die Ballen gelehnt zu plaudern oder die Landschaft zu beobachten. Schließlich verbreiterte sich die enge Schlucht und mündete in ein stilleres und ruhigeres Gewässer. Noch immer befanden sie sich in einem tiefen Canon, aber aus dem Helligkeitsgrad des Himmels ließ sich entnehmen, daß sie auf dem See kurz vor Leilas waren. Sie befanden sich jetzt auf der Westseite des Gebirgszuges. Der See war seicht und trübe, der Grund nur erahnbar und voller Schlick und Schlamm. Sie stakten und ruderten westwärts, hinein in ein scheinbar grenzenloses Nichts.
Nach viertägiger Fahrt auf dem See, währenddessen die Luft leichter und merkbar kühler wurde, sichteten sie rechterhand zu ihrer Fahrtrichtung einige Landungsstege, hinter denen sich ein Steilufer erhob, das eingehüllt war in einen rosafarbigen Dunstschleier. Han fragte Narman, ob das schon Leilas sei.
„Nein, Leilas ist oberhalb des Ufers; von hier aus kann man es nicht sehen. Der Dunst kommt aus den Häusern und Handwerksbetrieben. Was du hier unten auf dem Wasser siehst, sind nur die Anlegestellen. Wir werden all unsere Sachen hier draußen auf dem Wasser verkaufen. Die Hafengebühr ist zu teuer! Sie sollen ruhig alles den Abhang hinaufschleppen. Wegen der Flut konnten sie nicht bis ans Ufer bauen; ich meine jene, die mit der Sonne kommt, wenn sie die Hölle des Südens besucht hat.“
Sie dirigierten das Floß mit aller Kraft auf die schwimmenden Anlegestellen zu. Han beobachtete Liszendir bei ihrer Arbeit an der Ruderstange; dann blickte er hinüber zu den beiden Schwestern. Alle drei waren sie Frauen, dennoch gab es etwas, das Liszendir von den beiden unterschied. Einen Moment lang entglitt es ihm, dann plötzlich war es ihm klar. In aller Deutlichkeit trat das Bild vor sein geistiges Auge – Liszendir sah irgendwie „fertiger“ aus. Er löste ihr Bild auf und versuchte sich die beiden Mädchen in einer Situation unter lauter Menschen vorzustellen. Ja, richtig! Uraz nahm eine schlichte, einfache Gestalt an, während Pelki mit einiger Mühe neben ihrer Schwester fast attraktiv, verständig und geschickt erschien. Das paßte gut zu dem Eindruck, den er von ihr während der Fahrt bekommen hatte. Dennoch – Liszendir war in ihrem Wesen „fertiger“.
Als er sie erneut beobachtete, wurde er auf etwas anderes aufmerksam, das ihm bisher noch nicht so klar zu Bewußtsein gekommen war: Sie ließ ihr Haar nun länger wachsen, da der kurze Schnitt ein Zeichen ihrer Reifezeit gewesen war. Er erinnerte sich noch genau, wie sie damals ausgesehen hatte: kurz, glatt und in der Mitte gescheitelt – geschlechtslos, ohne besondere Merkmale, wie alle, die im Reifungsalter waren. Dennoch – wie sehr er auch das Bild hin und her wendete – konnte er in ihr keine Geschlechtsgenossin sehen. Es war, als ob trotz aller kultureller Gleichheit der Geschlechter die angeborenen Unterschiede dadurch erst zur vollen Entfaltung kamen; als ob Kleider und Haartracht das Eigentliche eher verdeckten, statt es zu steigern, wie er bisher in Übereinstimmung mit allen anderen ihm bekannten Mitmenschen geglaubt hatte. Seine eigenen Leute waren der Ansicht, daß man Jungen und Mädchen bei gleicher Haar- und Kleidertracht unmöglich auseinanderhalten könnte. Dagegen schienen eben diese Jungen und Mädchen mit dieser Sache keinerlei Schwierigkeiten zu haben – sie wußten es einfach. Han seinerseits wußte es jetzt ebenfalls.
Mit ihrer so typischen Nonchalance trug Liszendir ihr Haar im Nacken zusammengebunden, wobei sie sich einer Schnur bediente, die sie aus einem der Ballen herausgefischt hatte; mit einer Grazie und Anmut floß es über ihren Rücken, daß selbst die feinste Seide damit nicht konkurrieren konnte. Sie spürte, daß er sie beobachtete, und drehte sich zu ihm um. Die Ruderstange hielt sie dabei locker.
„Da du den Kopf heute so voller Gedanken hast, will ich dir ein Rätsel aufgeben. Bist du bereit? Ich will wissen, wie ein fließendes Gewässer, das nicht tiefer als dieses hier ist, eine Gebirgskette von mehreren Meilen Höhe durchschneiden kann.“
Han lachte. „Du, der große Philosoph, fragst mich? Weißt du nicht, daß das Wasser mit seiner Demut, die die Niederungen aufsucht und sich nicht selbst erhöht, alles erreicht und gewinnt?“
„In der Tat, ein mnathman ! Dardenglir hatte recht, was dich betrifft, Han. Du mußt endlich diese Selbsttäuschung, reich werden zu wollen, aufgeben
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