Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
ich will schlafen … nur noch schlafen …
Als ich wieder aufwache, höre ich die Ärzte. Sie reden leise, ihre Stimmen klingen ruhig. Niemand scheint sich ernsthaft Sorgen zu machen. Trotzdem, irgendetwas ist merkwürdig, irgendetwas nicht normal. Nur was?
Im nächsten Augenblick schießt etwas heiß durch meine Venen, ein Kribbeln überzieht meinen ganzen Körper, als würde eine Feder darüber streifen, und dann bin ich hellwach. Der geistige Schleier hat sich so abrupt in Luft aufgelöst, als hätte mich jemand mit einem Kübel eiskalten Wassers übergossen. Aber jetzt ist mein Verstand glasklar.
Jeremy! Was ist mit Jeremy? Und Mum!
»Mum?«, flüstere ich und öffne meine Augen.
Aber es ist nicht meine Mutter, die eben meine Hand loslässt, sondern eine spindeldürre Schwester mit breiter Nase und weit auseinanderstehenden Augen. Sie schraubt einen Metalltiegel zu, wendet sich ab und wäscht sich die Hände. »Der Marker hat eine leichte Entzündung hervorgerufen. Das sollte er nicht. Aber die Creme wirkt schnell«, sagt sie emotionslos und verlässt ohne weitere Erklärungen den Raum.
Ich starre ihr hinterher, dann auf meine Handinnenfläche, die sie behandelt hat. Hauchdünne silberne Fäden ziehen sich über die Haut und kreuzen sich mit den Lebenslinien zu einem bizarren Muster. Sie scheinen keinen Sinn zu machen. So etwas habe ich noch nie gesehen, auch verstehe ich ihren Zweck nicht. Mein Zeigefinger streicht unwillkürlich über den Fremdkörper. Er lässt sich kaum erspüren.
Erst jetzt registriere ich einen Mann, der mit dem Rücken zu mir an einer eigenartigen Anzeigetafel aus Glas steht, die er steuert, ohne sie zu berühren.
»Hallo«, versuche ich, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Aber der Mann reagiert nicht. »Hey! Sie!«, sage ich lauter und als er sich endlich umdreht: »Warum sind meine Eltern nicht hier? Wo bin ich? Was ist das hier auf meiner Hand?«
»Es wird sich alles klären. Ich bin nicht befugt, tut mir leid«, antwortet er, doch ich lese weder Mitleid noch Interesse in seinem Gesicht. Auch scheint er kein Arzt zu sein. Zumindest trägt er keinen Kittel, stattdessen einen milchigen Ganzkörperanzug, der ihn auf seltsame Weise konturlos erscheinen lässt. »Ihre Werte sind stabil. Bis auf die winzige Entzündung.« Jetzt greift er nach meinem Arm und biegt meine Finger hoch, ganz so, als sei ich eine Puppe. »Sehen Sie selbst, er hat sich wunderbar mit Ihrem Nervensystem verbunden. Also kein Anlass zur Sorge.«
Seine Ignoranz macht mich wütend, gleichzeitig fühle ich mich elend und verlassen. »Hören Sie! Ich gehe jetzt, okay?« Ich versuche selbstbewusst zu klingen, aber es hört sich mehr wie eine Frage an.
»Das wird nicht möglich sein«, antwortet der Mann und bringt mein Bett in eine aufrechte Position. »Aber ich bleibe bei Ihnen, bis Sie geholt werden. Meine Aufgabe ist es lediglich, Ihnen in der verbleibenden Zeit den Marker zu erläutern. Bitte wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit Ihrer linken Handinnenfläche zu.«
»Wohin werde ich geholt?«
»Ich bin nicht …«
»Dann rufen Sie jemanden, der befugt ist!«
Jetzt scheine ich meinen Worten genug Kraft verliehen zu haben, denn kurz zeichnet sich Verblüffung auf seinem bleichen Gesicht ab. Statt einer Antwort wendet er sich wieder der Anzeigetafel zu. Mein Blick folgt seinem zu einem digitalen Balken, der kurz rot aufleuchtet, dann wieder in einen gelben Bereich zurücksinkt. Als prompte Reaktion werde ich ruhiger, obwohl ich es nicht will. Ganz so, als würde ich fremdbestimmt, ferngesteuert, automatisch reguliert.
Es fühlt sich falsch an, denn ich spüre nichts als Erstaunen, als ich mich wieder frage: Wo bin ich? Warum haben meine Eltern mich hiergelassen? Allein? Was ist mit Jeremy geschehen?
Die Ungewissheit sollte mich mit Panik erfüllen, aber mein Körper lässt keinerlei Emotionen mehr zu. Er verhält sich beherrscht und ich kann meine Gedanken nicht mit der Angst, Wut oder dem Entsetzen in Einklang bringen, das ich empfinden sollte.
Okay, dann kann ich ja auch gehen.
Aber der Sessel lässt mich nicht aus seiner Schale, obwohl ich jeden Muskel meines Körpers anspanne. Ich mühe mich ab, winde mich hin und her, bis auch meine Freiheit mir nicht mehr wichtig erscheint. Gleichgültig lasse ich die Arme sinken und sehe trübe zu dem bleichen Gesicht des Technikers. Er deutet mit knapper Geste auf einen Gurt, der mich anscheinend fixiert hält, aber ebenso wenig spürbar ist wie die silbernen Fäden
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