Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten (German Edition)
auf meiner Hand.
»Was haben Sie mir gegeben?«, frage ich eher aus Langeweile.
Mein Gegenüber, das mit seinen blassblauen Augen auf mich herabsieht, nickt zufrieden. »Es ist notwendig, dass wir Ihre Emotionen herunterregulieren. Sie müssen in der Lage sein, mir zu folgen.«
Er greift erneut nach meiner Hand und drückt einen schlanken Metallstab in die Vertiefung zwischen Daumen und Zeigefinger. Sofort vereinen sich die vielen feinen Silberfäden zu einer Fläche, die von einem klar umrissenen Rechteck begrenzt ist. Zahlen und Farben erscheinen darauf.
»Dies ist Ihr Marker«, erklärt das bleiche Gesicht und umfährt mit dem Metallstab die eckige Kontur. »Er zeigt momentan Ihre Vitalwerte. Das heißt, eigentlich nur eine vereinfachte Darstellung mit den wichtigsten Kennzahlen. Hier, auf unserem Neuroscreen hinter mir an der Wand, sehen Sie alle neuralen, chemischen und hormonellen Prozesse Ihres Körpers. Für Ihre Belange jedoch reicht der Puls«, er tippt auf eine der Zahlen, »Blutdruck, die Katecholamine, wie Adrenalin, Dopamin, also die wichtigsten Stresshormone, und zu guter Letzt eine Zusammenfassung sämtlicher Werte, die Ihre allgemeine Verfassung widerspiegeln. Momentan liegen Sie im hellgrünen Bereich. Das ist hervorragend, aber natürlich auch Ihrem derzeitig begrenzten emotionalen Spektrum zuzuschreiben. Was ein roter Wert bedeutet, muss ich wohl nicht erläutern.« Er schließt meine willenlose Hand zur Faust. »Bald werden Sie merken, dass wir Ihre Emotionen stückweise wieder hochfahren. Erschrecken Sie also nicht, wenn die Werte dann ein bisschen durcheinandergeraten. Öffnen bitte.«
Der Mann tippt mit dem Stab auf meine Fingerknöchel und ich folge seiner Anweisung.
»Der Marker ist mit Ihrem neuralen Netz insoweit verbunden, als dass wir auch über die Distanz hinweg Zugriff haben werden. Er dient uns zur Lokalisierung und Portierung Ihrer Person. Außerdem werden Sie beschränkte Textnachrichten über ihn empfangen. Sollten Sie diese missachten, wird er durch einen Signalton auf sich aufmerksam machen. Ich nehme an, Sie haben meine Ausführungen begriffen?«
Ich nicke stumm und betrachte mit schräg gelegtem Kopf den Text, der statt der Ziffern auf der Anzeige erschienen ist:
»Herzlich willkommen bei Top The Realities, Alison Hill.«
Der Mann scheint alles gesagt zu haben. Er verlässt den Raum und statt seiner betritt eine übergroße, schlanke Frau, deren Alter ich nicht bestimmen kann, das Zimmer. Ihr langer Hals wie auch ihr Gesicht sind mit einer goldenen Schicht bedeckt, die nur um die Augen herum leichte Brüche aufweist. Sie klatscht freudig in die Hände, als sie mich sieht.
»Das also ist Alison Hill. Wunderbar! Reine Haut, unverbrauchtes Gesicht, ganz natürlich. Ich werde nicht viel machen müssen.«
Sie strahlt und blickt zur Anzeigetafel, die anscheinend viel mehr Aufschluss über mein Befinden gibt, als ein simples »Wie geht es Ihnen?«.
»Ich bin Ivana Jass.« Immerhin hat Goldmarie den Anstand sich vorzustellen. Sie deutet einen asiatischen Gruß an. »Genießen Sie den Zustand? Ich muss zugeben, ich beneide Sie! Keine Rötungen, Schweißausbrüche, hektische Flecken … nichts, was Ihr Aussehen ruinieren könnte … oh nein, schon vorbei.« Merklich enttäuscht unterbricht sie sich und deutet auf einen Balken, der sich leicht in den gelben Bereich angehoben hat.
Tatsächlich nehme ich wieder ein leises Gefühl wahr: Verwunderung. Verwunderung darüber, warum ich hier bin.
Dass dies kein herkömmliches Krankenhaus sein kann, habe ich bereits begriffen, was das Ganze soll, allerdings nicht.
»Können Sie mir denn Fragen beantworten, Ivana?«
»Können schon, Schätzchen. Dürfen aber nicht.« Versöhnlich tätschelt sie mir die Hand.
Verdammt! Vielleicht sollte ich es mit Mitgefühl probieren. Mein Instinkt sagt mir, dass ich taktieren muss, wenn ich wieder Herr meiner Lage sein möchte. »Hören Sie, ich bin ohnmächtig geworden. Zu Hause in meinem Zimmer. Dann bin ich hier wieder aufgewacht, mit diesem Marker auf der Hand, und ich weiß nicht, wo meine Eltern sind, mein Bruder scheint verschwunden zu sein …«
Sie soll mich nicht für übergeschnappt halten. Darum verschweige ich, mir überhaupt nicht sicher zu sein, ob das Geschehene wirklich passiert ist. »Ich möchte doch nur wissen, was los ist …« Meine Stimme klingt weinerlich und plötzlich brechen alle Dämme. Tränen fließen über mein Gesicht, ich wende es bewusst nicht ab. Soll sie
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