Morland 01 - Die Rückkehr der Eskatay
erreichte, das sich weit ins Gebirge grub. Juri blieb stehen und stützte sich keuchend auf die Skistöcke. Über ihm funkelten kalt die Sterne, während der abnehmende Mond hinter den schroffen Gipfeln aufging. Die östliche Seite des Tales war bereits in sein blasses, silbernes Licht getaucht. Vorsichtig schob sich Juri weiter. Der Schnee unter ihm knirschte trocken, der keuchend ausgestoßene Atem ließ Nebelfahnen in der unbewegten Luft stehen. Juri drehte sich um. In der Ferne konnte er das Licht des Lagerplatzes sehen. Gegen den Sternenhimmel sah der Berg, an dessen Fuß die Gruppe das Lagerfeuer entzündet hatte, wie der Schatten eines gefallenen Riesen aus.
Juri konzentrierte sich darauf, nach vorne zu schauen und einen Weg hinaus aus diesem Reich der eisigen Stille zu finden. Er stieß sich mit seinen Stöcken ab und glitt vorsichtig weiter.
Die brusthoch wachsenden Nadelgehölze erschwerten das Fortkommen. Immer wieder verhakten sich die Kufen in den knorrigen Ästen. Dennoch wusste Juri, dass es wenig Sinn hatte, sich der Ski zu entledigen, dazu war der Schnee zu tief. Er musste einen Rhythmus finden, der ihn trug und seinen Bewegungen die notwendige Gleichmäßigkeit verlieh. Ein Lied, das seine Mutter ihm immer vorgesungen hatte, kam ihm in den Sinn:
Juri war diese Sprache fremd. Seine Großmutter hatte ihm einst erzählt, dass diese Worte älter waren als die Welt, die sie kannten, und dass es kaum noch jemanden gab, der sie verstand. Auch die Großmutter wusste nur ungefähr, dass das Lied von der Sonne erzählte, die nie schlief, obwohl sie nachts nicht zu sehen war. Nun, er fand jedenfalls, dass es einen wundervollen Takt hatte. Und so murmelte er die Worte immer und immer wieder. Wie ein Gebet, das weder einen Anfang noch ein Ende hatte, sondern sich wie das Leben im Kreis drehte. So marschierte er weiter ins Tal hinein.
Zehn Jahre war es jetzt her, dass er und Iveta den Aufruf der Morstal-Gesellschaft gelesen hatten. Man hatte furchtlose Familien mit Pioniergeist gesucht, die bereit waren, jenseits des Polarkreises nach Erz zu schürfen. Morlands Hunger nach Rohstoffen war schon immer unstillbar gewesen, seine gierigen Hochöfen waren unersättlich. Juri hatte damals wie viele andere, die vom Land in die Stadt gezogen waren, in einer der zahlreichen Fabriken geschuftet. Zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche hatte er für einen Hungerlohn am Hochofen gestanden. Noch heute war sein Körper übersät von unzähligen pockenartigen Brandnarben, die er dem Funkenflug der angestochenen Schmelze zu verdanken hatte und die ihn bis ans Lebensende an diese bittere Zeit erinnern würden. Iveta hatte als Wäscherin für eine reicheFamilie gearbeitet und war von den gnädigen Herrschaften wie eine Haussklavin behandelt worden. Ihr Traum war es immer gewesen, mit Juri eine Familie zu gründen, doch wie hätten sie ein Kind durchbringen sollen, wenn sie selbst nicht genug zum Leben hatten? Dann hatten sie den Aufruf gelesen und ihre spärlichen Habseligkeiten zusammengepackt. Das Angebot, das man ihnen und vielen anderen gemacht hatte, war zu verlockend gewesen: Wenn sie sich für zehn Jahre nach Horvik verpflichteten, war man bereit, ihnen das Fünffache des Durchschnittslohnes zu zahlen, die Unterkunft wurde gestellt. Lebensmittel waren gänzlich frei und würden wöchentlich mit einem Versorgungszug nach Horvik geliefert. Es klang zu schön, um wahr zu sein.
Der Traum platzte, als sie in Horvik ankamen. Das Haus, das man ihnen versprochen hatte, war eine erbärmliche Wellblechhütte, die sie erst herrichten mussten, sonst hätten sie die eisigen Temperaturen des Winters nicht überlebt.
Am liebsten wären sie mit dem nächsten Zug wieder zurückgekehrt. Nichts funktionierte an diesem Ort. Die Förderanlagen waren in einem katastrophalen Zustand und immer wieder gab es Grubenunglücke, da die Sicherheitsbestimmungen ständig ignoriert wurden, um die Vorgaben des Konzerns zu erfüllen.
Auch die Bezahlung war nicht unbedingt so, wie sie es sich vorgestellt hatten, denn die Löhne wurden auf ein Treuhandkonto in Morvangar überwiesen. Erst nach Ablauf der Vertragsfrist würde man ihnen die Summe auszahlen. Doch wozu brauchten sie am Polarkreis schon Geld? Es gab dort ohnehin nichts zu kaufen, und die zwei Dinge, die man wöchentlichanlieferte, gab es im Überfluss: Nahrungsmittel und Alkohol. Zum ersten Mal in ihrem Leben mussten Juri und Iveta nicht hungern. Also blieben sie und hofften,
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