Morphium
plötzlich scharf.
»Also das hat dir Gerrard in den Kopf gesetzt? Achte nicht auf ihn, Mary; es war nie die Rede davon und wird es nie sein, dass du bei mir schmarotzen könntest! Ich bitte dich nur um meinetwillen, noch ein bisschen länger hier zu bleiben. Es wird bald vorüber sein…«
»O nein, Mrs Welman, Dr. Lord sagt, Sie könnten noch viele Jahre leben.«
»Das wünsche ich mir aber gar nicht, danke schön! Ich sagte ihm neulich, dass ich in einem wirklich zivilisierten Staat nichts zu tun hätte, als ihm mitzuteilen, dass ich zu sterben wünsche, worauf er mich schmerzlos mit irgendeinem angenehmen Medikament ins jenseits befördern würde. ›Und wenn Sie ein bisschen Mut hätten, Doktern, sagte ich, würden Sie es auch tun!‹«
Mary rief:
»Oh! Was sagte er?«
»Der respektlose junge Mann grinste mich nur an, meine Liebe, und meinte, er würde es nicht riskieren, aufgehängt zu werden. Er sagte: ›Wenn Sie mir Ihr ganzes Geld hinterließen, Mrs Welman, wäre das natürlich etwas anderes.‹ Frecher junger Kerl. Aber ich mag ihn gut leiden. Seine Besuche tun mir gut, mehr als seine Medikamente!«
»Ja, er ist sehr nett«, sagte Mary. »Schwester O’Brien hält sehr viel von ihm und auch Schwester Hopkins.«
»Die Hopkins sollte wirklich mehr Verstand haben in ihrem Alter. Und die O’Brien, die zerfließt doch schon, wenn sie ihn nur sieht.«
»Arme Schwester O’Brien!«
Mrs Welman nickte nachsichtig.
»Sie ist eigentlich ein ganz nettes Ding, aber alle Pflegerinnen gehen mir auf die Nerven; sie glauben immer, dass man um fünf Uhr früh ›eine gute Tasse Tee‹ möchte! Was war das? Ein Auto?«
Mary sah aus dem Fenster.
»Ja, es ist das Auto. Miss Elinor und Mr Roderick sind angekommen.«
Mrs Welman nickte ihrer Nichte herzlich zu.
»Ich freue mich sehr, Elinor, über dich und Roddy.«
»Das dachte ich mir, Tante Laura.«
Nach einem Augenblick des Zögerns fragte die Ältere:
»Du – du hast ihn doch wirklich gern, Elinor?«
Elinor hob die zartgezeichneten Brauen.
»Natürlich.«
Laura Welman sagte rasch:
»Du musst verzeihen, liebes Kind. Weißt du, du bist so… so zurückhaltend; es ist schwer zu erraten, was du denkst oder fühlst. Als ihr beide noch jünger wart, dachte ich, du beginnst vielleicht Roddy zu sehr – zu lieben…«
Wieder hoben sich Elinors Brauen.
»Zu sehr?«
Die Ältere nickte.
»Ja. Es ist nicht klug, zu sehr zu lieben. Manchmal tut aber ein sehr junges Mädchen gerade das… Ich war froh, als du zur Beendigung deiner Erziehung nach Deutschland gingst. Dann, als du zurückkamst, schienst du ganz gleichgültig gegen ihn – und – nun, das tat mir auch wieder Leid! Ich bin eine langweilige alte Frau, schwer zufrieden zu stellen! Ich habe mir immer eingebildet, dass du eine stark empfindende Natur bist – das Temperament hast, das unserer Familie eigen ist. Es ist keine sehr glückliche Gabe für seine Besitzer… Aber, wie gesagt, als du so gleichgültig gegen Roddy zurückkehrtest, tat mir das Leid, weil ich immer gehofft hatte, ihr zwei würdet zusammenfinden. Und jetzt ist es geschehen, und alles ist in Ordnung! Du liebst ihn wirklich?«
»Ich liebe Roddy genug und nicht zu sehr.«
Mrs Welman nickte billigend.
»Ich glaube, dann wirst du glücklich sein. Roddy braucht Liebe – aber heftige Gemütsbewegungen mag er nicht. Es würde ihn irritieren, wollte man zu sehr auf seinen Besitzanspruch pochen.«
»Du kennst Roddy sehr gut!«
»Wenn Roddy dich ein klein wenig lieber hat als du ihn nun, umso besser.«
Elinor kommentierte ironisch:
»Tante Emmas Ratschläge: ›Lassen Sie Ihren Freund im Ungewissen! Er soll Ihrer nicht zu sicher sein!‹«
Laura Welman fragte forschend:
»Bist du unglücklich, Kind? Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Nein, nein, nichts.«
Elinor stand auf und ging zum Fenster.
»Tante Laura, sag mir ehrlich, glaubst du, dass Liebe je ein Glück ist?«
Mrs Welmans Gesicht wurde ernst.
»So wie du es meinst, Elinor – nein, wahrscheinlich nicht… Einen Menschen leidenschaftlich lieben bringt immer mehr Leid als Freude; aber trotzdem, Elinor, möchte man nicht ohne diese Erfahrung sein. Jemand, der nie wirklich geliebt hat, hat nie wirklich gelebt…«
Das Mädchen nickte.
»Ja – du verstehst – du weißt, wie es ist – «
Die Tür öffnete sich, und die rothaarige Schwester O’Brien trat ein: »Mrs Welman, der Doktor ist da.«
Dr. Lord war ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren. Er hatte
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