Morphium
Augen ruhten jetzt auf der Gestalt, die am Fenster saß. Sie ruhten zärtlich auf ihr – beinahe sehnsüchtig.
Endlich sagte sie: »Mary – «
Das Mädchen wandte sich rasch um.
»Oh, Sie sind wach, Mrs Welman.«
»Ja, ich bin schon einige Zeit wach…«
»Ach, das wusste ich nicht. Ich wäre – «
Mrs Welman unterbrach sie:
»Nein, es ist schon gut. Ich dachte nach – dachte an viele Dinge.«
»Ja, Mrs Welman?«
Der teilnehmende Blick, die aufmerksame Stimme zauberten einen zärtlichen Ausdruck auf das Gesicht der Älteren.
»Ich hab dich sehr lieb, mein Kind. Du bist sehr gut zu mir.«
»Oh, Mrs Welman, Sie sind es, die gut zu mir gewesen ist. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre ohne Sie! Sie haben alles für mich getan.«
»Ich weiß nicht… ich weiß wirklich nicht…« Die Kranke bewegte sich unruhig, ihr rechter Arm zuckte – der linke blieb reglos. »Man meint es gut, aber es ist schwer zu wissen, was das Beste ist – was recht ist. Ich war meiner selbst immer zu sicher…«
»O nein, Sie wissen bestimmt immer, was das Beste und das Rechte ist.«
Laura Welman schüttelte den Kopf.
»Nein – nein. Es quält mich. Ich hatte immer eine Hauptsünde, Mary: Ich bin stolz. Stolz kann vom Teufel sein. Er liegt uns im Blut. Elinor hat ihn auch.«
Mary warf schnell ein:
»Es wird angenehm für Sie sein, Miss Elinor und Mr Roderick hier zu haben, es wird Sie aufheitern. Die beiden waren schon ziemlich lange nicht mehr da.«
»Es sind gute Kinder – sehr gute Kinder«, sagte Mrs Welman leise. »Und haben mich alle beide gern. Ich weiß, ich brauche nur nach ihnen zu schicken, und sie kommen jederzeit. Aber ich mag das nicht zu oft tun. Sie sind jung und glücklich – haben das Leben noch vor sich. Es ist nicht nötig, sie vor der Zeit in die Nähe von Leiden und Verfall zu bringen… Ich hoffte immer, sie würden einander heiraten, ohne ihnen das zu deutlich zu zeigen. Junge Leute sind so widerspenstig, es hätte vielleicht das Gegenteil bewirkt! Als sie noch Kinder waren, dachte ich, dass Elinor ihr Herz an Roddy verloren habe. Aber was ihn betrifft, war ich nicht sicher. Er ist ein merkwürdiger Mensch. Henry war genauso – sehr zurückhaltend und wählerisch… Ach ja, Henry…«
Sie schwieg eine Weile in Gedanken an ihren toten Gatten.
»So lang her… so sehr lang… Wir waren erst fünf Jahre verheiratet, als er starb. Doppelseitige Lungenentzündung… Wir waren glücklich – ja, sehr glücklich; aber irgendwie erscheint es so unwirklich, jenes Glück. Ich war ein sonderbares, ernstes unreifes Mädchen – den Kopf voller Ideale und Heldenverehrung. Ohne Sinn für Realität…«
Mary murmelte:
»Sie müssen sehr einsam gewesen sein – nachher.«
»Nachher? O ja – schrecklich einsam. Ich war sechsundzwanzig… und jetzt bin ich über sechzig. Eine lange Zeit, meine Liebe… eine lange, lange Zeit…« Und dann stieß sie mit Bitterkeit hervor: »Und nun dies!«
»Ihre Krankheit?«
»Ja. Ein Schlaganfall ist das, was ich immer am meisten befürchtet habe. Diese beschämende Hilflosigkeit! Gewaschen und gepflegt zu werden wie ein Säugling! Außerstande, sich selbst zu helfen – es macht mich wahnsinnig! Die O’Brien ist ja gutmütig – das muss man ihr lassen. Sie macht sich nichts daraus, wenn ich sie anfahre, und ist blöder als die meisten. Aber es ist etwas anderes für mich, wenn du bei mir bist, Mary.«
»Wirklich?« Das Mädchen wurde rot. »Ich – ich bin so froh, Mrs Welman.«
»Du hast dir Sorgen gemacht, nicht wahr? Wegen deiner Zukunft. Überlass das nur mir, meine Liebe. Ich werde schon sehen, dass du die Mittel hast, unabhängig zu sein und einen Beruf zu ergreifen. Aber hab noch ein wenig Geduld – es bedeutet mir so viel, dass du bei mir bist.«
»Oh, Mrs Welman, natürlich – natürlich! Ich möchte Sie um nichts in der Welt verlassen, und wenn Sie mich brauchen – «
»Ja, ich brauche dich…« Die Stimme klang ungewöhnlich tief und voll. »Du – du bist ganz wie eine Tochter für mich, Mary. Ich habe dich hier in Hunterbury aufwachsen sehen von einem kleinen, unbeholfenen Ding zu einem schönen Mädchen… Ich bin stolz auf dich, Kind. Ich hoffe nur, ich habe das Richtige für dich getan.«
»Oh, ganz gewiss, Mrs Welman – es ist nur so, dass ich es nicht recht finde, dass ich nach allem, was Sie für mich getan haben, nichts arbeite. Ich – möchte nicht, dass man denkt, ich schmarotze bei Ihnen.«
Laura Welmans Stimme wurde
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