Morphium
Rennplatz.«
»Sie hat immer so wundervolle Kleider, nicht wahr? Finden Sie sie wirklich so hübsch, Schwester?«
Schwester Hopkins zögerte.
»Es ist schwer zu sagen, wie diese Mädchen wirklich ausschauen unter der Schminke! Meiner Ansicht nach ist sie lange nicht so hübsch wie Mary Gerrard!«
Schwester O’Brien kniff die Lippen zusammen und legte den Kopf schief.
»Da haben Sie vielleicht Recht. Aber Mary hat nicht das Auftreten!«
Schwester Hopkins meinte belehrend:
»Kleider machen Leute.«
»Noch eine Tasse, Schwester?«
»Danke, Schwester, warum nicht?«
Über den dampfenden Tassen rückten die Frauen ein wenig näher zusammen.
»Etwas Merkwürdiges ist heute Nacht passiert«, begann Schwester O’Brien. »Ich ging um zwei Uhr zu meiner Patientin, um sie bequem zu betten, wie ich es immer tue, und sie lag wach da. Doch sie musste wohl geträumt haben, denn als ich ins Zimmer kam, sagte sie: ›Die Fotografie. Ich muss die Fotografie haben.‹ Ich erwiderte: ›Ja, natürlich Mrs Welman. Aber möchten Sie nicht lieber bis zum Morgen warten?‹ Und sie sagte: ›Nein. Ich will sie jetzt ansehen.‹ Also sagte ich darauf: ›Nun, wo ist diese Fotografie? Ist es die von Mr Roderick, die Sie meinen?‹ Und sie sagte: ›Roderick? Nein. Lewis.‹ Und ich musste ihr helfen, sich aufzusetzen, dann nahm sie einen Schlüssel aus der kleinen Schachtel neben ihrem Bett und befahl mir, die breite Lade des Schranks zu öffnen, und darin war wirklich eine große Fotografie in einem silbernen Rahmen. So ein schöner Mann! Und quer über eine Ecke war ›Lewis‹ geschrieben. Alt war sie, muss schon vor vielen Jahren aufgenommen worden sein. Ich brachte sie ihr, und sie hielt sie fest und starrte sie lange an und murmelte nur ›Lewis – Lewis‹. Dann seufzte sie, gab mir das Bild wieder und sagte, ich solle es zurücklegen. Und was glauben Sie, als ich mich wieder umwandte, war sie sanft eingeschlafen wie ein kleines Kind.«
»War es ihr Mann?«
»Er war es nicht! Denn heute früh fragte ich Mrs Bishop so beiläufig, wie denn der Vorname des verstorbenen Mr Welman war, und sie sagte mir, er hieß Henry!«
Die beiden Frauen sahen sich viel sagend an. Schwester Hopkins hatte eine lange Nase, deren Spitze nun ein wenig zitterte vor freudiger Erregung.
»Lewis – Lewis. Ich möchte doch wissen… Ich erinnere mich nicht an den Namen in dieser Gegend.«
»Es war vor vielen Jahren, meine Liebe«, gab die andere zu bedenken.
»Ja, natürlich, und ich bin ja erst seit ein paar Jahren hier. Ich möchte wissen – «
Schwester O’Brien wiederholte:
»Ein sehr schöner Mann. Sah aus wie ein Kavallerie-Offizier.«
Schwester Hopkins schlürfte ihren Tee.
»Das ist sehr interessant.«
Schwester O’Brien wurde romantisch:
»Vielleicht eine Jugendliebe, und der grausame Vater trennte sie…«
Schwester Hopkins ergänzte mit einem tiefen Seufzer:
»Vielleicht ist er im Krieg gefallen…«
Als Schwester Hopkins, angenehm angeregt vom Tee und den romantischen Assoziationen, endlich das Haus verließ, lief ihr Mary Gerrard nach.
»Ach, Schwester, darf ich Sie ins Dorf begleiten?«
»Natürlich dürfen Sie das, liebe Mary.«
Mary Gerrard sagte atemlos: »Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Ich mache mir solche Sorgen über alles.«
Die Ältere sah sie freundlich an.
Mit einundzwanzig Jahren war Mary Gerrard ein entzückendes Geschöpf, das an eine wilde Rose erinnerte: ein langer zarter Hals, hellgoldenes Haar, in natürlichen, weichen Wellen eng an den wundervoll geformten Kopf geschmiegt, und Augen von tiefem, lebhaftem Blau.
»Was ist denn los?«
»Ach, die Zeit vergeht und vergeht – und ich, ich tue gar nichts! Mrs Welman ist ja so großzügig gewesen, hat all diese teuren Schulen für mich bezahlt. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt anfangen sollte, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich sollte wenigstens eine Ausbildung anfangen.«
Schwester Hopkins nickte verständnisvoll.
»Das Schlimme ist nur, dass jede Art Ausbildung so teuer ist. Ich kann jetzt ziemlich gut Deutsch nach meinem Aupair-Jahr in Deutschland und könnte vielleicht damit etwas anfangen. Aber eigentlich möchte ich doch Krankenpflegerin werden. Pflegen ist für mich das Schönste.«
Schwester Hopkins erklärte gänzlich unromantisch:
»Dafür muss man aber so stark sein wie ein Pferd, wissen Sie!«
»Ich bin stark! Und Mutters Schwester, die in Neuseeland, war Pflegerin, also hab ich’s im Blut.«
»Unterrichten
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