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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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der Höhe. Unklar blieb, wie tief sie noch in den Untergrund reichte. Das Siegel befand sich knapp über dem Boden. Ging ich davon aus, dass es ursprünglich in Kopfhöhe angebracht worden war, dann steckte die Wand noch ein gutes Stück im Schutt.
    Aber von wessen Kopfhöhe sollte ich ausgehen? Von der eines Menschen, der vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren gelebt hatte und annähernd hundertfünfzig Zentimeter groß war? Oder von der eines großen, aufrecht gehenden Reptils? Vielleicht war der Stollen ursprünglich abschüssig angelegt worden und hier an seinem Ende meterhoch mit Sand und Geröll gefüllt. Vielleicht befanden wir uns dicht unter der Decke, und hinter der Tür ging es erst einmal ein Dutzend Meter bergab bis zum eigentlichen Raumboden; in eine Kammer, hoch genug für einen Saurier …
    Vielleicht geht gerade deine Phantasie mit dir durch, Krispin!
    »Ich glaube, ich habe es gleich geschafft!«, rief Rahmed.
    »Gut, dann hört auf«, bestimmte ich.
    Ein leises, schneidendes Zischen drang aus Rahmeds Mulde, als er seinen Meißel zurückzog. Es klang, als ob man auf den Knopf einer Spraydose drückte.
    »Hört ihr das?«, fragte Mohad. Im selben Moment ertönte ein trockener Knall, und ein feiner Riss verlief senkrecht durch die Tür bis hinab zum Siegel. Einen Lidschlag später folgte ein eigenartiges Geräusch, das sofort von einem gewaltigen Brausen abgelöst wurde. In der Mulde, die Rahmed geschlagen hatte, klaffte unvermittelt ein mehr als handtellergroßes Loch. Der Meißel, der mindestens vier Pfund wiegen musste, rutschte Rahmed aus der Hand, schoss durch die neu entstandene Öffnung und war verschwunden.
    »Was zum …?«, setzte Károly an. Die restlichen Worte wurden ihm förmlich von den Lippen gerissen. Sein Gesicht lief krebsrot an, seine Augäpfel traten hervor wie bei einem Frosch. Wind zerwühlte unsere Haare, die in Richtung des Durchbruchs geweht wurden. Meine Trommelfelle begannen zu klingeln, während die Luft um uns herum schlagartig dünner wurde. Der Schal des Turbans, den Rahmed sich locker um den Hals gewickelt hatte, wurde von dem Sog erfasst und in das Loch gesaugt. Rahmed stieß einen ungläubigen Laut aus, wurde nach vorne gerissen und schlug mit dem Gesicht genau in die Mulde. Ein grauenvolles Geräusch aus dem Inneren seines Körpers ertönte, die Gummiträger seiner Atemschutzmaske rissen entzwei, dann zuckte er noch einmal und erschlaffte.
    Mohad stürzte mit einem Schrei heran, um seinen Bruder zurückzuziehen, doch dieser klebte an der Tür, als sei sein Gesicht mit dem Loch, das sich aufgetan hatte, verwachsen. Ich wollte ihn daran hindern, ihm zuschreien, dass Rahmed unser Leben schützte, solange sein Körper dort hing, aber ich war durch den Schock wie gelähmt. Trotz der gewaltigen Kräfte, die an Rahmeds Gesicht zerrten, schaffte es Mohad, ihn von der Wand wegzureißen. Das hieß: Er riss das zurück, was von Rahmed übrig geblieben war. Etwas Langes, Bleiches wurde mit ihm aus der Öffnung gezogen. Rahmeds Körper sank zu Boden wie eine schlaffe Luftmatratze, und sein Bruder drehte ihn lamentierend auf den Rücken. Im nächsten Augenblick schrie er wie von Sinnen, und auch Károly konnte sich eines entsetzten Aufschreis nicht erwehren. Eine augenlose, furchtbar entstellte Fratze starrte uns an. Die Haut sah aus wie verzogene Knetmasse, als hätte sie sich vom Knochen gelöst. Aus Rahmeds Mund, einem blutigen Krater zwischen aufgedunsenen Lippen, stieg neben der weit herausquellenden Zunge ein glitschiges, rot-weißes Etwas zu der Öffnung in der Tür empor und entschwand in die Finsternis dahinter. Es war wahrscheinlich das Einzige, was sich noch im Körper des Unglücklichen befand, und das auch nur, weil es mit seinem Rektum verbunden war: Rahmeds Darm. Alle restlichen inneren Organe mussten von jener immensen Kraft, die hinter der Tür herrschte, aus seinem Leib herausgerissen worden sein – dem unbarmherzigen Sog eines Vakuums!
    »Zurück zum Eingang!«, japste ich. »Schnell!«
    Károly war aufgesprungen und hatte bereits einige Meter gewonnen, indes ich Mohad, der vor Entsetzen und Verzweiflung völlig benommen war, mit Gewalt von Rahmeds Leiche fortzerren musste. Atemlos stolperten und krochen wir durch den Stollen, während hinter uns das schneidende Zischen und Heulen weiterhin den Gang erfüllte. Heiße, staubige Luft schlug uns entgegen wie ein Sturmwind.
    Ein Vakuum … Wie hätte ich das ahnen sollen? Was, um alles in der Welt, befand sich

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