Morphogenesis
einzige Mittel, den Irrtum zu vermeiden, ist die Unkenntnis. Nur ist der Irrtum das Leben und das Wissen der Tod. Die Chance zu leben hättest du also ergreifen sollen, als sie sich dir bot, Hippolyt.«
Ich schüttelte entsetzt den Kopf. »Was, um alles in der Welt, bist du?«
Thot hatte den Hallenboden erreicht und hielt inne. »Für den Augenblick bin ich Gott, Hippolyt. Und dieser Augenblick währt seit über fünftausend Jahren.«
Ich schüttelte trotzig den Kopf. »Du bist ein Monster.«
»Wo liegt der Unterschied? Bist du dem Gott, an den du glaubst, jemals begegnet, um dir ein Urteil bilden zu können?« Thot kroch heran. Sein von langen, insektenartigen Metallbeinen getragener Körper besaß stumpfe, rudimentäre Auswüchse, die ihm halfen, den unförmigen Leib vorwärts zu bewegen. Er schob sich über den Boden wie eine gigantische Termitenkönigin und richtete sich schließlich vor mir auf. »Du entstammst meiner Kultur, Hippolyt. Der einzig obligate Gott für Menschen deiner Abstammung bin ich. Mir allein gebühren deine Gebete.«
Ich hielt seinem Blick für Sekunden stand, dann sah ich zu Boden. Thot besaß Augen, vor deren Blick es womöglich sogar dem Allmächtigen gegraut hätte.
»Du wünschst dir, mich auszulöschen, nicht wahr?« Die Kreatur bewegte eines ihrer Beine, legte seine Spitze unter mein Kinn und hob es an, sodass ich gezwungen war, sie wieder anzusehen. Ich bemühte mich, ihr nicht in die Augen zu schauen, sondern konzentrierte mich auf Thots ›Mund‹. »Habe ich Recht, Hippolyt?«
Ich schwieg.
»Sicher habe ich Recht. Allerdings bevorzuge ich die Realität, die mir am besten gefällt. Du verlangst Erkenntnis all dessen? Ich werde dir die Gabe schenken, Erkenntnis zu erlangen!« Thot kroch näher und bäumte sich über mir auf. »Ich gebe dir etwas, wonach sich Milliarden sehnen, Hippolyt. Und wenn wir uns einst wieder sehen werden, in zehn, einhundert oder eintausend Jahren, dann wirst du deine Realität hassen und mir helfen, sie ins rechte Licht zu rücken.«
Zwei atemlose Herzschläge lang starrte ich in Thots Augen, um die Bedingungslosigkeit in ihnen zu erkennen. Dann wirbelte ich auf der Stelle herum und stürzte dem geöffneten Tor entgegen. Ein Schlag wie von einer Peitsche traf mich in den Rücken. Ich strauchelte, fiel hin, rappelte mich wieder hoch und versuchte, auf Händen und Füßen zu entkommen, doch so sehr ich mich auch bemühte, der rettende Ausgang schien sich weiter und weiter von mir zu entfernen. Mit einem Mal tauchten vor mir die beiden Serafen auf, schwebten mit geöffneten Mäulern eine Armlänge vor meinem Gesicht und fauchten bedrohlich. An ihren Giftzähnen glitzerten kristallene Tropfen, in denen ich das fluoreszierende Abbild Thots zu erkennen glaubte. Ich war erstarrt, wagte nicht mehr, mich zu bewegen. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen, die Sekunden, während derer die beiden Schlangenhäupter vor mir schwebten, dehnten sich zu Minuten. Dann schossen aus ihren Mäulern plötzlich drei, vier dünne Stahlen einer glasklaren Flüssigkeit und trafen mein Gesicht, ehe ich in der Lage war, meine Augen zu schließen.
Ich ließ das Hexonnox fallen, riss die Hände empor und hielt sie schützend vor mein Gesicht, doch es war zu spät. In meinen Augen explodierte ein unbeschreiblicher Schmerz. Es war, als fräße sich brennendes Napalm durch meine Augäpfel bis ins Gehirn und von dort aus über das Nervensystem durch meinen gesamten Körper. Ich kroch blind über den Boden, suchte das Hexonnox mit den Händen im nachtkalten Gras, doch vergeblich.
Aus meinem Stöhnen wurden erbärmliche Schmerzensschreie. Ich hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen, krümmte und wand mich, bis jeder Muskel meines Körpers durch das Gift der Serafen in Krämpfen erzitterte. Das Pumpen meines Herzens begann unendlich zu schmerzen, jeder Atemzug fiel mir schwerer. Ich konnte meine Zunge nicht mehr bewegen, das Blut kochte unter meiner Haut, dann überfiel meinen gesamten Körper eine lähmende Taubheit.
Über mir tauchte das verzerrte Abbild Thots auf, sah eine Weile auf mich nieder und beugte sich dann zu mir herab. »Bald, kleiner Kematef«, drang seine tiefe, weinerliche Stimme an meine Ohren, »bald wirst du gelernt haben, dass Barmherzigkeit keine Tugend ist.« Dann fühlte ich ein riesiges, kaltes Maul, das sich hart auf meine Lippen presste. Zusammen mit einem meine Lungen aufblähenden, unbeschreiblich kalten Atemstoß schlüpfte etwas in meinen
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