Mortlock
Theater nicht viel zu tun war oder eine Seuche ausbrach.
Was für ein Leben
, dachte sie. Wenigstens brachte ihr die Arbeit auf der Bühne genug ein, um über die Runden zu kommen.
Cardamom unterbrach ihre Gedanken. »Komm, lass uns die Schminke abwischen. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«
Josie machte die Tür der Garderobe hinter sich zu, lehnte sich einen Moment dagegen und schloss die Augen. Nun, da der Auftritt vorbei war, spürte sie, wie sich Erschöpfung in ihr ausbreitete. Seufzend löste sie sich von der Tür, zog ihr Trikot aus und schlüpfte in die gestärkte Bluse und dassteife schwarze Kleid, das sie auf Cardamoms Anordnung außerhalb des Theaters tragen musste. Der Stoff war schrecklich kratzig. Wenn Cardamom sie in dem Kleid sah, sagte er immer etwas Verletzendes, zum Beispiel: »Ich wünschte, du wärst etwas damenhafter.«
Josie wusste selbst, dass sie keine Schönheit war. Dazu brauchte sie Cardamom nicht. Als sie kleiner war, hatte sie oft die Tänzerinnen mit ihren langen, eleganten Beinen bewundert.
»Willst du auch Tänzerin werden, Josie?«, hatte eine von ihnen gefragt und sie in die Nase gezwickt.
»Oh ja, bitte«, hatte sie gesagt, doch die Tänzerinnen hatten nur gekichert und waren in ihre Garderoben verschwunden. Jetzt wusste Josie, warum. Sie war einfach zu hässlich.
Madame Carla hatte gesagt, sie sei »ansehnlich«. Josie wusste, dass »ansehnlich« nicht dasselbe war wie »hübsch«. Außerdem war Madame Carla die Bärtige Frau am Stand draußen vor dem Erato und somit ganz sicher keine Expertin.
Josie kaute an ihrem Fingernagel und betrachtete ihr blasses Ebenbild im Spiegel der Frisierkommode. Dann griff sie nach einem Wattebausch und begann die Schminke abzuwischen. Sie seufzte, als sie über ihre breite Nase strich.
Und diese Augen
, dachte sie.
So ein langweiliges Braun
. Mit der anderen Hand ergriff sie eine Locke und zwirbelte sie um ihren Zeigefinger. Sie wusch und bürstete ihr blondes Haar regelmäßig und band es stets mit einer Schleife zusammen. Es war das Einzige, worauf sie stolz war.
Schließlich stand sie auf, hängte ihr Kostüm in den Schrank und öffnete die Garderobentür. Cardamom stand im Flur, die Hand bereits erhoben, um an die Tür zu klopfen. Er wurde rot und räusperte sich.
»Ich wollte dich gerade holen«, sagte er.
Josie sah ihn an. Sein säuerlicher Atem roch ein wenig nach Alkohol.
Nicht schon wieder
, stöhnte sie innerlich. Er wandte sich um und ging Richtung Bühnenausgang. Kopfschüttelnd folgte Josie ihm.
Am Ausgang stand Ernie Cumbers, der Wachmann des Theaters. Er nickte knapp, als er sie kommen sah. »N’Abend, Mr Chrimes. Miss Josie.«
»Guten Abend, Ernie«, sagte Josie lächelnd. Cardamom nickte seinerseits. Für jeden, der ihn nicht kannte, sah Ernie furchteinflößend aus: ein Gorilla von einem Mann, mit sehr kurzem Hals, flacher Nase und winzigen Augen, die in dem fleischigen Gesicht fast verschwanden. Er trug einen auffällig karierten Anzug und eine Melone, die zwei Nummern zu klein für seinen massigen Kopf war. Aber Josie hatte gesehen, wie er sich bei einem der sentimentalen Lieder, die im Erato vorgetragen wurden, verstohlen eine Träne aus dem Auge gewischt hatte. Sie hatte auch gesehen, wie er Betrunkene quer über die Straße warf, wenn er sie in der Garderobe einer der Tänzerinnen erwischte. Ihre Blicke kreuzten sich, und Ernie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Empfangskomitee.
Draußen vor dem Bühneneingang wartete eine kleine Gruppe von Bewunderern auf Cardamom, und es waren keine armen Leute, wie Josie an den Zylindern und eleganten Kleidern sehen konnte. Einige der Damen hatten einen Kutscher bei sich. Ein Herr mit langem, weißem Bart trat vor und schüttelte Cardamom begeistert die Hand.
»Was für eine beeindruckende Vorführung, Sir, und so vollendet ausgeführt«, sagte er, immer noch kräftig schüttelnd. »Wo haben Sie diese Zauberkunststücke gelernt?«
»Bei alten Fakiren, tief in den verborgenen Tälern des Himalaya«, erwiderte Cardamom. Er richtete sich zu voller Größe auf und befreite seine Hand. »Von den Derwischen und Medizinmännern im schwärzesten Afrika. Ich bin durch die ganze Welt gereist, um die dunklen Künste zu erlernen, mein Herr.«
Josie seufzte verstohlen; das kannte sie alles zur Genüge. Ihr Blick wanderte über die Straße. Ein hochgewachsener, hagerer Mann, in einen schäbigen Mantel und einen langen Schal gehüllt, um sich vor der winterlichen Kälte zu
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