Morton, Kate
sind, allenfalls
vermisst. Eine ganz andere Welt als die, in der das Mädchen erwacht ist.
Denn dort
unten, ganz nahe bei dem Mädchen, das seinen Blick in die Ferne schweifen
lässt, geschieht etwas.
Der Graben
hat angefangen zu atmen. Tief, tief unten im Schlamm schlägt das nasse Herz des
begrabenen Mannes. Ein leises Geräusch wie das Stöhnen des Windes steigt aus
den Tiefen auf und vibriert dicht über der Oberfläche. Das Mädchen hört es,
nein, es spürt es, denn die Fundamente des Schlosses sind eins mit dem Schlamm,
und das Stöhnen dringt durch die Steine, die Mauern empor, Stockwerk für
Stockwerk und unmerklich durch das Bücherregal, auf dem es sitzt. Ein einst
heiß geliebtes Buch fällt um, und das Mädchen im Turm erschrickt.
Der
Modermann öffnet ein Auge. Verschlagen blickt es hin und her. Denkt er in
diesem Augenblick an seine verlorene Familie? An die hübsche, zierliche Frau
und die beiden kleinen, wohlgenährten Kinder, die er zurückgelassen hat? Oder
gehen seine Gedanken noch weiter zurück, zu den Tagen seiner Kindheit, als er
mit seinem Bruder über die Wiesen, durch das hohe Gras lief? Oder denkt er
vielleicht an die andere Frau, die ihn vor seinem Tod liebte? An ihre
Schmeicheleien und Aufmerksamkeiten, an ihre Weigerung, seine Weigerung
hinzunehmen, was den Modermann am Ende alles gekostet hat ...
Etwas
verändert sich. Das Mädchen spürt es und fröstelt. Legt eine Hand an die eisige
Fensterscheibe, wo sie auf dem feuchten Film einen sternförmigen Abdruck
hinterlässt. Die Geisterstunde ist angebrochen, auch wenn das Mädchen nicht
weiß, dass man sie so nennt. Jetzt ist niemand mehr da, der ihm helfen kann.
Der Zug ist fort, der Wilddieb kuschelt sich an seine Frau, und selbst das
Neugeborene schläft und hat es aufgegeben, der Welt mitzuteilen, was es weiß.
Im Schloss
ist nur das Mädchen am Fenster wach. Die Kinderfrau hat aufgehört zu
schnarchen, und sie atmet so leicht, dass man meinen könnte, sie sei erfroren.
Auch die Vögel im Wald sind still, sie haben die Köpfchen unter die zitternden
Flügel gesteckt und die Augen zu dünnen, grauen Linien geschlossen, um nicht
sehen zu müssen, was sich da nähert.
Nur das
Mädchen ist wach. Und der Mann, der im Schlamm erwacht ist. Sein Herz pumpt
jetzt schneller, denn seine Zeit ist gekommen, und sie ist kurz bemessen. Er
bewegt seine Hand- und Fußgelenke und steigt aus seinem schlammigen Bett.
Sieh nicht
hin. In Gottes Namen, schau dir nicht an, wie er durch die Oberfläche bricht,
wie er aus dem Graben steigt, wie er sich auf dem schwarzen, nassen Ufer
aufrichtet, die Arme streckt und Luft holt. Wie er sich erinnert, wie es sich
anfühlt zu atmen, zu lieben, zu leiden.
Schau dir
lieber die Gewitterwolken an. Selbst in der Dunkelheit kannst du sie kommen
sehen. Wütende, wie Fäuste geballte Wolken, die sich übereinanderwälzen und
miteinander ringen, bis sie sich direkt über dem Turm vereinen. Bringt der
Modermann das Gewitter oder das Gewitter den Modermann? Niemand weiß es.
In seinem
Zimmer neigt das Mädchen den Kopf, als die ersten, zögernden Tropfen gegen die
Fensterscheibe und seine Hand klatschen. Es war ein schöner Tag, nicht zu heiß,
der Abend war kühl. Nichts deutete auf mitternächtlichen Regen hin. Am nächsten
Morgen werden die Leute sich über die feuchte Erde wundern, sie werden sich am
Kopf kratzen, einander anlächeln und sagen: Das ist ja ein Ding! Und wir sind
nicht einmal wach geworden!
Aber sieh
nur! Was ist das? Eine unförmige Gestalt klettert an der Turmmauer hoch. Sie
klettert schnell und geschickt, wie es eigentlich unmöglich ist. So ein
Kunststück kann doch kein Mensch vollbringen!
Die
Gestalt erreicht das Fenster des Mädchens. Zwei Augen vor seinen Augen. Das
Mädchen sieht sie durch das blasige Glas, durch den Regen, der jetzt in Strömen
fällt, sieht ein schlammbedecktes, abscheuliches Geschöpf. Das Mädchen öffnet
den Mund, um zu schreien, um Hilfe zu rufen, aber genau in diesem Moment
verwandelt sich die Szene.
Er verwandelt sich. Durch die Schlammschichten, durch
Generationen von Finsternis und Wut und Trauer sieht das Mädchen das
menschliche Gesicht. Das Gesicht eines jungen Mannes. Ein vergessenes Gesicht.
Ein Gesicht voller Sehnsucht und Traurigkeit und Schönheit. Und ohne
nachzudenken öffnet es das Fenster. Um ihn einzulassen, damit er vor dem Regen
geschützt ist.
Raymond Blythe, Die wahre Geschichte vom Modermann, Prolog
Teil eins
Ein
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