Morton, Kate
nicht. Einfach anders. Schön auf
eigenartige Weise, langes Haar, große Augen, mit denen sie sich wild umsah.
Aber nicht nur das machte sie auffällig. Sie war damals erst siebzehn, im
September 1939, aber die anderen
Frauen wirkten wie eingeschüchtert.«
»Ehrfurchtsvoll?«
»Ja, ich
glaube, so kann man es sagen, ehrfurchtsvoll. Sie waren überrascht, sie zu
sehen, und unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Irgendwann hat eine der
Frauen ihre Sprache wiedergefunden und gefragt, ob sie behilflich sein könne,
aber die junge Frau wedelte nur mit ihren langen Fingern und sagte, sie sei
gekommen, um ihre Evakuierte abzuholen. Genau das hat sie gesagt — nicht eine Evakuierte, sondern ihre Evakuierte.
Ich saß auf dem Boden, und sie ist direkt auf mich zugekommen. >Wie heißt
du?<, wollte sie wissen, und als ich ihr meinen Namen nannte, hat sie mich
angelächelt und gemeint, ich müsste doch bestimmt müde sein nach der langen
Fahrt. >Möchtest du gern mitkommen und bei mir wohnen?<, fragte sie dann,
und ich habe genickt, das nehme ich jedenfalls an, denn daraufhin hat sie sich
zu der Frau umgedreht, die vorher so resolut aufgetreten war, der mit der
Liste, und hat ihr erklärt, sie würde mich mitnehmen.« »Wie hieß sie?«
»Blythe«,
sagte meine Mutter, einen kaum wahrnehmbaren Schauder unterdrückend. »Juniper
Blythe.« »Und der Brief war von ihr?«
Meine
Mutter nickte. »Sie hat mich zu ihrem Auto geführt, einem Luxusgefährt, wie ich
es noch nie gesehen hatte, und ist mit mir zu dem Haus gefahren, wo sie
zusammen mit ihren beiden älteren Schwestern lebte, Zwillingen. Es ging durch
ein schmiedeeisernes Tor über eine gewundene Zufahrt zu einem riesigen,
prächtigen Bau, der sich mitten in einem Wald befand. Schloss Milderhurst.«
Es war ein
Name wie aus einem Schauerroman, und mich befiel ein leichtes Frösteln bei der
Erinnerung an das Schluchzen meiner Mutter, als sie den Namen der Frau auf der
Rückseite des Briefs gelesen hatte. Ich hatte schon alle möglichen Geschichten
über evakuierte Kinder und merkwürdige Vorfälle gehört, und ich fragte mit
tonloser Stimme: »War es unheimlich?«
»Nein,
überhaupt nicht. Kein bisschen unheimlich. Ganz im Gegenteil.«
»Aber der
Brief - du hast doch ...«
»Ich war
einfach überrascht, mehr nicht. Eine Erinnerung an eine Zeit, die ich längst
vergessen hatte.«
Sie
schwieg. Ich dachte darüber nach, wie einschneidend die Evakuierung gewesen
war, wie angsteinflößend und verwirrend es für sie als Kind gewesen sein
musste, an einen unbekannten Ort geschickt zu werden, wo alles anders war als
zu Hause. Meine eigenen Kindheitserinnerungen waren mir noch sehr präsent, der
Schrecken, den es bedeutet hatte, wenn man sich vorübergehend in einer fremden
Umgebung befand, an die verzweifelten Bindungen, die man notgedrungen einging
- an Gebäude, an verständnisvolle Erwachsene, an Freunde -, um die Zeit zu
überstehen. Der Gedanke an die Freundschaften brachte mich auf eine Idee:
»Bist du nach dem Krieg jemals wieder hingefahren, Mum? Nach Milderhurst?«
Sie
blickte erschrocken auf. »Natürlich nicht. Warum hätte ich das tun sollen?«
»Ich weiß
nicht. Um zu sehen, was sich verändert hatte, um die Leute wiederzusehen. Deine
Freundin zu besuchen.«
»Nein«,
erwiderte sie mit Bestimmtheit. »Ich hatte meine eigene Familie hier in London,
meine Mutter brauchte mich. Außerdem hatten wir viel zu tun, die
Aufräumarbeiten nach dem Krieg ... Das Leben ist weitergegangen.« Und damit
senkte sich der vertraute Schleier wieder zwischen uns, und ich wusste, dass
das Gespräch vorbei war.
Am Ende
gab es doch kein festliches Sonntagsmahl. Meine Mutter meinte, ihr sei nicht
danach, und fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn wir das Hühnchen
diesmal ausfallen ließen. Es schien mir lieblos, sie daran zu erinnern, dass
ich sowieso kein Fleisch esse und eigentlich nur gekommen war, um meine
Tochterpflichten zu erfüllen. Also erklärte ich mich einverstanden und riet
ihr, sich ein bisschen hinzulegen. Gute Idee, sagte sie, und während ich meine
Sachen zusammenpackte, war sie bereits dabei, zwei Aspirin zu schlucken, und
ermahnte mich, meine Mütze aufzusetzen bei dem kalten Wind.
Mein Vater
hat die ganze Angelegenheit verschlafen. Er ist älter als meine Mutter und seit
einigen Monaten in Rente. Das Rentnerleben bekommt ihm nicht. Während der Woche
streift er durchs Haus auf der Suche nach Dingen, die repariert werden müssen,
und treibt meine
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