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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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Mutter in den Wahnsinn, und die Sonntage verbringt er in
seinem Sessel. Das gottgegebene Recht des Hausherrn, erklärt er jedem, der es
hören will.
    Ich gab
ihm einen Kuss auf die Wange und ging durch die eisige Kälte zur U-Bahn, müde
und doch aufgewühlt und ein bisschen niedergeschlagen bei dem Gedanken, allein
in die höllisch teure Wohnung zurückzukehren, die ich bis vor Kurzem mit Jamie
geteilt hatte. Erst irgendwo zwischen Kensington High Street und Notting Hill
Gate fiel mir auf, dass meine Mutter mir gar nicht gesagt hatte, was in dem
Brief stand.
     
    Eine Erinnerung bringt Klarheit
     
    Während ich dies niederschreibe, bin ich ein bisschen von mir selbst enttäuscht.
Aber hinterher ist man immer klüger, und jetzt, wo ich weiß, was es zu finden
gab, frage ich mich natürlich, warum ich mich nicht gleich auf die Suche
gemacht habe. Und ich bin nicht ganz dumm. Meine Mutter und ich trafen uns ein
paar Tage später zum Tee. Auch diesmal traute ich mich nicht, ihr von den
Veränderungen in meinem Leben zu erzählen, aber ich habe sie wenigstens nach
dem Inhalt des Briefs gefragt. Sie winkte ab und sagte, es sei nichts von
Bedeutung gewesen, nur ein knapper Gruß; dass ihre Reaktion allein der
Überraschung geschuldet war. Da wusste ich noch nicht, dass meine Mutter eine gute
Lügnerin ist, sonst hätte ich ihre Worte angezweifelt, hätte nachgehakt oder genauer
auf ihre Körpersprache geachtet. Aber so etwas macht man halt nicht. Instinktiv
neigt man dazu zu glauben, was die Leute einem sagen, vor allem in der Familie,
bei Menschen, die man gut kennt, denen man vertraut. Zumindest ging es mir so.
Bis dahin jedenfalls.
    Und so
vergaß ich das alles: Milderhurst und die Evakuierung meiner Mutter und sogar
den eigenartigen Umstand, dass sie mir vorher noch nie davon erzählt hatte. Es
ließ sich leicht erklären, wie die meisten Dinge, wenn man sich Mühe gibt:
Meine Mutter und ich kamen gut miteinander aus, aber wir hatten uns nie sehr
nahgestanden und waren nicht unbedingt erpicht darauf, uns vertraulich über die
Vergangenheit auszutauschen. Über die Gegenwart übrigens auch nicht. Erst
recht nicht über die Zukunft. Anscheinend war die Evakuierung für meine Mutter
eine angenehme, aber unbedeutende Erfahrung gewesen, und so gab es keinen
Grund, mir davon zu erzählen. Ich erzähle ihr weiß Gott auch nicht alles.
    Schwerer
zu erklären war das seltsame und zugleich heftige Gefühl, das ihre Reaktion auf
den Brief in mir auslöste, die unerklärliche Gewissheit, dass es da eine
Erinnerung gab, die ich einfach nicht zu fassen bekam. Etwas, das ich gesehen
oder gehört und dann vergessen hatte und das jetzt durch die dunklen Windungen
meines Gehirns geisterte, ohne irgendwo zu verharren, sodass ich es hätte
benennen können. Und so zerbrach ich mir den Kopf, ob vielleicht vor Jahren,
irgendwann einmal ein Brief eingetroffen war, der sie auch zum Weinen gebracht
hatte. Aber es war zwecklos, das verschwommene Bild wurde nicht scharf, und
schließlich sagte ich mir, dass wahrscheinlich meine Fantasie mit mir
durchging, meine blühende Fantasie, von der meine Eltern schon immer gesagt
hatten, sie würde mich noch eines Tages in Schwierigkeiten bringen, wenn ich
nicht aufpasste.
    Zudem
drückten mich ganz andere, größere Sorgen. Nämlich die Frage, wo ich wohnen
würde, wenn die Miete für die Wohnung fällig werden würde. Die
Mietvorauszahlung für sechs Monate war Jamies Abschiedsgeschenk gewesen, eine
Art Wiedergutmachung für sein miserables Verhalten. Aber im Juni war Schluss.
Ich hatte in den Zeitungen und in den Schaufenstern von Immobilienbüros nach
Ein-Zimmer-Apartments gesucht, aber bei meinem bescheidenen Gehalt erwies es
sich als äußerst schwierig, etwas zu finden, das halbwegs in der Nähe meines
Arbeitsplatzes lag.
    Ich
arbeite als Lektorin bei Billing & Brown, einer kleinen Verlagsdruckerei in
Notting Hill, die Herbert Billing und Michael Brown Ende der Vierzigerjahre
gegründet hatten, um ihre eigenen Theaterstücke und Gedichte herauszubringen.
Ich glaube, anfangs genoss der Verlag hohes Ansehen, aber seit der Markt
zunehmend von den Großverlagen beherrscht wird und das Interesse der Leser an
Nischentiteln immer mehr zurückgeht, drucken wir nur noch Sachen, die wir
unter uns wohlwollend als »Spezialität des Hauses« oder weniger wohlwollend
als »Machwerk« bezeichnen.
    Mr.
Billing - Herbert - ist mein Chef, und er ist außerdem mein Mentor und mein
bester Freund. Ich habe nicht

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