Moskauer Diva
»Wunder gibt es nur auf der Bühne. Heute ist uns, gleichsam als Ausgleich für unseren Verlust, ein großzügiges Geschenk des Schicksals zuteilgeworden. Schauen Sie sich diesen Mann an.« Er wies mit ausholender Geste auf seinen Begleiter. »Was glauben Sie, wer das ist?«
»Der Dramaturg«, sagte jemand erstaunt. »Aber den haben wir doch heute schon gesehen.«
»Herr Fandorin, Erast Petrowitsch«, sagte der inzwischen zurückgekehrte Lowtschilin. Er besaß ein vorzügliches Namensgedächtnis.
»Nein, meine Freunde! Dieser Mann ist unser Retter! Er hat uns ein unerhört erfolgversprechendes Stück gebracht!«
Dewjatkin rief entsetzt: »Und der ›Kirschgarten‹?«
»Zum Teufel mit dem ›Kirschgarten‹! Unter die Axt damit, recht hat Ihr Lopachin! Das Stück von Erast Petrowitsch ist neu, außer mir hat es noch niemand gelesen! Es ist in jeder Hinsicht ideal. Von den Rollen, vom Thema und von der Handlung her!«
»Wo haben Sie es denn aufgetrieben, Herr Dramaturg?«, fragte die Reginina. »Wer ist der Autor?«
»Er selbst ist der Autor!« Stern lachte dröhnend und genoss das allgemeine Erstaunen. »Ich habe Erast Petrowtisch erklärt, was für ein Stück wir brauchen, und anstatt danach zu suchen, hat er sich hingesetzt und es – eins, zwei, drei – selbst geschrieben. In zehn Tagen! Genau so ein Stück, von dem ich geträumt habe! Sogar besser! Das ist phänomenal!«
Nun erhob sich natürlich allgemeine Unruhe. Diejenigen, die mit ihrer Rolle im »Kirschgarten« zufrieden waren, ärgerten sich, die anderen hingegen drückten eifrige Zustimmung aus.
Elisa schwieg und betrachtete den grauhaarigen Herrn mit neuem Interesse.
»Genug gestritten«, sagte sie. »Wann können wir uns mit dem Text vertraut machen?«
»Jetzt gleich«, verkündete Noah Nojewitsch. »Ich habe ihn schon überflogen. Sie wissen ja, ich habe ein fotografisches Gedächtnis,aber dies hier muss man hören. Das Stück ist im Blankvers geschrieben.«
»Ach ja?«, fragte Prostakow verblüfft. »Im Stil Rostands, ja?«
»Ja, aber mit asiatischem Kolorit. Genau zur richtigen Zeit! Das Publikum ist verrückt nach allem Japanischen. Bitte, Erast Petrowitsch, setzen Sie sich auf meinen Platz und lesen Sie vor.«
»Aber ich st-tottere …«
»Das macht nichts. Bitten wir ihn darum, Herrschaften!«
Alle klatschten, und Fandorin zupfte an seinem sauber gestutzten schwarzen Schnurrbart und entnahm einer Mappe einen Stapel Blätter.
»›ZWEI KOMETEN AM STERNENLOSEN HIMMEL‹«, las er vor und erklärte. »Das ist ein Titel in der Tradition des japanischen Theaters. Ich bin ein wenig eklektisch vorgegangen, ich habe manches aus dem Kabuki-Theater genommen, manches aus dem Joruri, dem alten Puppentheater, manches aus …«
»Nun fangen Sie schon an zu lesen, was unverständlich ist, können Sie hinterher erklären«, unterbrach ihn Stern ungeduldig und zwinkerte den Schauspielern zu: Passt auf, gleich werdet ihr staunen.
»Ja. Natürlich. Entschuldigen Sie.« Der Autor räusperte sich. »Es gibt noch einen Untertitel. ›
Theaterstück mit Gesang, Tanz, Kunststücken, Fechtszenen und Michiyuki
‹.«
»Bitte, womit?«, fragte Rasumowski. »Das letzte Wort habe ich nicht verstanden.«
»Das sind traditionelle Szenen, b-bei denen die P-personen unterwegs sind«, erläuterte Fandorin. »Für einen Japaner ist der Begriff Weg von großer Bedeutung, darum werden die Michiyuki-Szenen besonders herausgehoben.«
»Schluss jetzt, keine Fragen mehr!«, blaffte Stern. »Lesen Sie vor!«
Alle wurden still. Es gibt für die Lesung eines Theaterstücks keine besseren Zuhörer als Schauspieler, die darin mitspielen sollen.
Alle Gesichter spiegelten die gleiche gespannte Erwartung – jeder versuchte herauszufinden, welche Rolle er bekommen würde. Nach und nach entspannten sich die Zuhörer, weil sie ihre Figur ausgemacht hatten. Allein an dieser Reaktion war zu erkennen, dass das Stück gefiel. Selten fand sich ein Drama, in dem jeder Schauspieler einen effektvollen Auftritt hatte, doch die »Zwei Kometen« waren ein solcher Glücksfall. Die Rollenfächer waren klar verteilt, es gab also keinen Anlass für Streit.
Auch Elisa erkannte ihre Rolle auf Anhieb: die hochrangige Geisha Ijumi. Sehr interessant! Singen konnte sie, tanzen erst recht – Gott sei Dank hatte sie die Ballettschule absolviert. Und was für Kimonos man fertigen konnte, was für Frisuren!
Wie hatte sie, obwohl sie doch eigentlich nicht dumm war und einiges erlebt hatte, so
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